Schon lange, bevor die Riemen eingezogen wurden und der flache Bug der Ifirnstolz fast am Grunde des sandigen Ufers kratzte, waren die Schreie zu hören. Von ihrer Ruderkiste aus hatte Helma sie gehört, während sie den Fluss hinauf gerudert waren. Ihre Arme zitterten von der Anstrengung, dem unbekannten Ruderlied zu folgen und sie wünschte sich einen Moment zum Verschnaufen.
„In den Kampf, für Swafnir!“, rief der junge Rekke, der nicht gerudert, sondern die Richtung bestimmt hatte, die das Schiff nahm. Tjalf Angmarson strotzte vor Energie und in Olport hatte man Helma versichert, dass er ein guter Anführer war, fette Beuten brachte er von jeder Herferd mit nach Hause, um sie großzügig unter seinen Rekkern zu verteilen.
Kampfeslustiges Gebrüll erfüllte die Luft, und wieder waren in der Ferne die Schreie zu hören: Die Thorwaler kommen! Helma beeilte sich, ihre Krötenhaut zu gürten, Skraja, Messer und die Flasche Waskirer gut erreichbar zu verwahren. Um sie herum johlten ihre Mitstreiter laut. Helma verstand es nur zu gut. Sie alle konnten es kaum erwarten. Doch sie selbst blieb still. Sie schloss den Riemen ihres Helmes, griff nach ihrer Orknase, und als sie endlich den Skald von der Rehling nahm, war sie doch eine der letzten, die das Schiff verließen.
Sie alle kannten den Plan – sofern man ihn so nennen konnte. Die erste Beute war eine leichte, hatte der Hetja ihnen erklärt. Sie mussten sich erst einmal zusammen finden, mussten sich kennenlernen. In Olport hatten sie Kämpfe ausgefochten, damit nur die besten Rekker mitkamen. Helma hatte sich gut geschlagen, aber sie war sich nur zu bewusst, dass die anderen ihr gegenüber im Vorteil waren.
Viele Worte hatte Tjalf nun also nicht mehr für sie, aber Helma hörte ohnehin nicht richtig zu. Es war nichts, was andere Anführer vor ihm nicht auch schon gesagt hatten. Stattdessen prüfte sie ihren Stand, verlagerte das Gewicht von einem Bein auf der andere, spürte den lederumschlungenen Griff ihrer Orknase in der rechten und das beruhigende Gewicht des Skaldes in der linken Hand. Der Schweiß befeuchtete ihr bereits jetzt schon den Nacken, aber sie war so gut vorbereitet, wie sie es sein konnte.
Das Schlagen von Orknasen auf Holz ließ sie aufschrecken. Ihre Mitstreiter hatten ein Kampflied angestimmt, und Helma merkte, dass sich auch ihr Körper ganz ohne ihr Zutun dem Rhythmus angeschlossen hatte.
Starke Schilder und scharfe Klingen, das hatten sie wohl! Zwei Dutzend Rekker stampften auf und setzten sich in Bewegung, wild johlend, in einem Tempo, bei dem Helma kaum mithalten konnte. Davor hatte Starkad sie zu warnen versucht. Vielleicht hatte die Stadt ihn verweichlicht. Vielleicht hatte sie versäumt, ihm zu zeigen, was wichtig war. Sie musste nicht vorne mitkämpfen. Ihr ging es um etwas anderes.
Der Haufen an Thorwalern, der sich nun dem nostrischen Dorf näherte, das das Unglück hatte, in der Nähe eines schiffbaren Flusses zu sein, war weit entfernt von der Gemeinschaft, der sie einst angehört hatte. Ach, Thorgrimm und Olgerda, Sigrun und Thordis, Iskir und Eindrin! Wie viel würde Helma dafür geben, wieder an der Seite ihrer Freunde kämpfen zu können.
Starke Schilde, scharfe Klingen, rauschend wild spritzt das Blut! Schon drangen die ersten Axtschläge zu Helma, als Tjalf und ihre anderen Mitstreiter die ersten Nostrier niederschlugen, die es wagten, sich zu wehren, ihnen ihr Hab und Gut zu überlassen. Bald war auch sie am Schauplatz des Gemetzels angekommen. Sie fasste ihre Orknase fester, bereit, sie einzusetzen, wenn sie denn nur einmal einen Moment hatte, um wieder zu Atem zu kommen. Schnell trank sie einen Schluck Waskirer.
Lasset unsre Waffen singen, wo einst Ebbe, Swafnirs Flut! Ein warmes Gefühl erwachte in Helma, als sie das helle Klirren um sich herum aufnahm, das Vor- und Zurückwogen ihrer Mitstreiter, die sich eine Gruppe Gegner nach der anderen vornahmen und sie für einen kurzen Moment das Fürchten lehrten, um sie dann für immer zum Schweigen zu bringen. Das war Swafnirs Flut, die nun endlich auch Helmas Kampfeswillen anfachte.
An einem Stall sah Helma eine junge Rekkerin, die alleine gegen gleich drei Bondi kämpfte, die sie mit Mistgabeln bedrängten. Sie erwehrte sich ihrer gut, aber abgeschnitten von ihren Mitstreitern konnte sie nicht mehr tun als das. Ihr Skjald war schon zersplintert.
„Für Swafnir!“, schrie Helma und eilte der jungen Rekkerin zu Hilfe. Als sie bei ihr ankam, erkannte sie Arnhild, ihre Nachbarin an den Riemen. Ein kleines Börn hatte sie zuhause bei ihren beiden Partnern gelassen, in einem kleinen Dorf in der Nähe von Olport. Nein, anders als Thorgrimm und Olgerda, als Sigrun und alle anderen von Helmas Freunden, anders als einstweil Helmas ganze Ottajasko, würde Arnhild nach Hause zurückkehren. Dafür würde Helma sorgen.
Sie fällte den ersten Bondi mit einem Hieb.
Der zweite drehte sich nach ihr um, doch sie war bereits zu nahe und er hatte keinen Platz mehr, seine Mistgabel war zu groß und lang, um jetzt noch etwas anrichten zu können.
Helma stieß ihn mit ihrem Skjald um. Hinter sich hörte sie das weiche Flatschen und Knirschen, als Arnhild ihm den Kopf abschlug.
Starke Schilde, scharfe Klingen, rauschend wild spritzt das Blut!, sang es in Helmas Kopf noch immer. Ein plötzliches, unerwartetes Lachen brach seinen Weg aus ihr heraus, und sie spürte Tränen über ihr Gesicht fließen.
Ja, dafür war sie geboren. Nicht für das Jolskrim, das sie in jenem verhängnisvollen Sommer gehütet hatte, und den ganzen Herbst und Winter über, bis in den Frühling, immer wartend, dass ihre Ottajasko doch wieder zurückkehrte. Nicht für das Pflegen derer, die in diesem jenem harten Winter schwächer geworden und gestorben waren, bis nur Helma übrig war, sie, und wie durch Ifirns Gnade auch das kleine Leben, wegen dem sie in jenem Sommer im Jolskrim verblieben war. Nicht für den langen Trek durch die Grauen Berge, den sie mit Starkad auf sich genommen hatte, als deutlich wurde, dass sie beide sterben würden, wenn sie darauf wartete, dass jemand zurückkehrte. Nicht für das Leben in der Stadt, wo sie sich verdingt hatte, – die Stadt, aus der sie nun endlich wieder entkommen war, um dort ihrem Schicksal ins Auge zu sehen, wo sie dem Gottwal am nächsten war. Lasset unsre Waffen singen, wo einst Ebbe, Swafnirs Flut!
„Bogskari!“ Die Warnung drang an Helmas Ohr, Arnhilds Stimme laut und erschrocken, und Helma machte eine halbe Drehung, damit der Skjald sie vom Kampfgetümmel her deckte.
Doch war es zu spät. Zwei Pfeile schlugen in ihr Skjald, doch der dritte bohrte sich genau in ihre Kehle. Heiß glühender Schmerz durchströmte sie. Noch stand sie auf den Beinen, aber nicht mehr lange. Schon musste sie husten, als sie statt Luft Blut atmete. Schon waren ihre weißen Haare blutgetränkt.
Mit einer letzten Kraftanstrengung schwang sie die Orknase. Dumpf fiel der dritte Bondi zu Boden, als sie seine Bauchdecke öffnete. Dann fiel auch sie auf die Knie und brach zusammen.
Eine klare Meeresbrise durchströmte Helmas Lungen, und sie spürte, wie sich die Schiffsplanken unter ihren Füßen bewegten. Swafnirs Flut strömte durch ihre Adern, erfüllte sie mit einer Kraft, die sie seit fünfzig Jahren nicht mehr gespürt hatte.
„Helma! Endlich!“, rief Sigrun, und Helma öffnete die Augen.
Thorgrimm grinste sie an und hob die Hand zum Gruß, und da war Olgerda schon bei ihr und drückte sie in einer festen Umarmung.
„Komm“, sagte Thordis, „die Schlacht ruft.“
Die Segel waren gestrafft, der Wind günstig. In der Ferne erklang das Tosen der Seeschlange. Helma blickte aufs Meer heraus.
„Für Swafnir!“, rief sie, und steuerte das Schiff dem großen weißen Pottwal nach, der die Schlacht anführte.