Der Wölfe Zorn

Thoralf blickte zufrieden über sein Ottaskin. Der Herbst hatte die Blätter gefärbt und die meisten Bäume waren bereits kahl. Sie waren gut durch den Sommer gekommen und würden nun mindestens genauso gut durch den Winter kommen.
Das Ottaskin lag in der Nähe der kleinen Stadt Muryt am Ufer des Merek. Es wurde nicht bitterkalt im Winter und im Frühling trat der Fluss nur selten über die Ufer. Der Handel mit Muryt lief bestens und Thoralfs Sippe kam gut über die Runden ohne auf Heerfahrt gehen zu müssen.
Sie arbeiteten hauptsächlich als Bauern und Fischer und lebten friedlich in den Tag hinein. Zweimal im Jahr, im Faramond und vor dem Winter, beobachteten sie wie ein mächtiger Drakkar den Merek hoch gezogen wurde, doch Thoralfs Sippe hatte nie Interesse daran gezeigt mit den Thorwalern der anderen Ottajasko in Kontakt zu treten. Wild sahen sie aus und Jahr um Jahr kamen sie aus Schlachten und Raubzügen zurück, blutbefleckt und voll mit neuen Narben. Die Wölfe wurden sie hier nur genannt. Zum Einen wegen ihres Wappentiers, zum Anderen weil sie sich jedes Jahr wie ein Rudel Wölfe in den Wald auf dem Berg zurück zogen.
Thoralf war ganz zufrieden damit, nichts mit ihnen zu tun haben zu müssen. Sie sahen einfach zu wild aus. Es schien ihnen auf dem Berg nicht schlecht zu gehen und sie hatten einen Drakkar, was den Neid in ihm aufflammen ließ.
Dieses Jahr, lange vorm Heimamond, tauchten Boten am Merek auf. Wagen und Karren voll mit Korn und Eisen. Sie trugen ein grün-oranges Wappen und ihr Ziel war der Vargberg. Die Boten redeten nicht viel mit ihnen und setzten zielstrebig ihren Weg fort. Die Thorwaler argwöhnten, weshalb plötzlich so viel Proviant und Waren zu der fremden Ottajasko gebracht wurden, hatten sie vorher doch nur Handel mit Plündergut betrieben. Das offensichtlich mittelländische Wappen machte es nicht besser.

So gingen sie weiter ihrem Alltag nach, doch einige Wochen später erschien erneut ein Tross mit Karren und Flößen, der Saatgut geladen hatte. Sie sahen die Boten schon von weitem und Thoralf überlegte nicht lange. Es ging ihnen gut, doch die Boten waren verhältnismäßig leichte Beute und wer konnte nicht zusätzliches Saatgut gebrauchen? Die andere Ottajasko hatte doch schon eine große Ladung bekommen, sie würden diese Lieferung sicher nicht vermissen.

Der Hetmann lief schnellen Schrittes zu den Langhäusern, griff seinen Speer und trommelte seine Krieger zusammen. Kurz erklärte er seinen Plan, alle stimmten zu und er lief zu den nun näheren Boten.
„Swafnir zum Gruße“, begrüßte er die Männer in gebrochenem Garethi. „Wohin führt euch eure Reise?“ Der Bote beäugte ihn misstrauisch. „Wir liefern etwas“, antwortete er knapp. „An die Vargberg-Ottajasko“,
Thoralf hatte keine Lust eine unnütze Konversation aufrecht zu erhalten. Er hob seinen Speer und setzte ihn dem kleineren Mann auf die Brust. „Ich denke es ist in eurem Interesse, wenn ihr das Saatgut und alles was ihr bei euch habt, einfach hier lasst. Wir töten euch nicht und ihr könnt zurück zu eurem Herrn gehen.“ Der Bote blickte den Thorwaler an, dann die Männer und Frauen die ihn flankierten. Sie trugen keine Rüstung und hatten nur Äxte und Speere bei sich, doch sie zu überrumpeln oder in die Knie zu zwingen war unmöglich. Er seufzte. „Nehmt euch alles und dann verschwinden wir von hier. Denkt aber nicht, dass das ohne Konsequenzen bleiben wird.“ Der Thorwaler lachte und deutete seinen Leuten die Säcke von den Karren und Flößen zu laden. Er lachte immer noch als die Boten mit nichts als ihrer Kleidung am Leib wieder abzogen.

„Konsequenzen“, wiederholte Thoralf spöttisch, als er seinen Blick über seine Sippe und die Langhäuser schweifen ließ. Der Drakkar der Wölfe war vor mehr als zwei Wochen wieder den Merek hoch getreidelt und natürlich hatte es keine Konsequenzen gegeben. Vielleicht waren die Boten ums Leben gekommen, oder die Wölfe trauten sich einfach nicht seine Sippe anzugreifen. Egal was es war, Thoralf war sehr zufrieden mit sich selbst. Es war einfach ein gutes Gefühl sicher zu sein, dass sie problemlos durch den Winter kommen würden.

„Wir kriegen Besuch!“ Der Ausruf ließ Thoralf aufblicken. Das war ungewöhnlich. Aus Richtung des Waldes näherten sich drei Thorwaler. Zwei Frauen und ein Mann. Die größere der beiden Frauen hatte lange blonde Zöpfe, die kunstvoll geflochten waren. Sie trug eine Krötenhaut und ihren Helm am Gürtel, den Speer fest in der rechten Hand. Ihre Begleiter waren schwerer gerüstet, die Frau mit Polsterwams, Krötenhaut und Helm, der Mann mit Kettenhemd, Krötenhaut und Helm. Beide führten Axt und Schild mit sich.

Thoralf schluckte und ging auf die drei zu, die sich zielstrebig näherten. „Swafnir zum Gruße“, begrüßte er die Fremden. „Habt ihr euch verlaufen?“ Die blonde Frau lächelte ihn an, doch Thoralf sah, dass ihr Lächeln nicht bis zu ihren Augen reichte. “Eigentlich nicht“, antwortete sie ohne eine Begrüßung. „Ihr habt ein schönes Ottaskin. Bist du der Hetmann?“ Thoralf nickte und überlegte wie er den anderen signalisieren konnte, dass ihm die Situation nicht geheuer war. „Weißt du“, fuhr die Frau fort. „Ich will mich kurz fassen. Mein Name ist Rea Grimasdottir, Hetfrau der Vargberg-Ottajasko. Ich bin gerade erst von einer langen Reise nach Hause gekommen und habe jetzt Dinge erfahren, die mir und meiner Ottajasko gar nicht gefallen.“ Der Mann zu ihrer rechten schüttelte den Kopf und musterte Thoralf mit wölfischem Blick. „Ein lieber Freund von uns hat uns Proviant geschickt und uns ist zu Ohren gekommen, dass du und deine Ottajasko die Boten überfallen habt.“ Thoralf spürte wie seine Hände feucht wurden. Sie waren nur zu dritt, das war zu schaffen und trotzdem fühlte er die Angst in seinem Magen größer werden.

„Verschwindet“, antwortete er und versuchte so kalt wie möglich zu klingen. „Falsche Antwort“, sagte die dunkelhaarige Thorwalerin und gab ihm einen Stoß mit dem Skjald, der Thoralf ins Wanken brachte. Er wollte protestieren, als er sah, dass die drei doch nicht allein waren. Am Rand des Waldes waren jetzt mehr Krieger zu sehen, schwer gerüstet und bis an die Zähne bewaffnet. Thoralf wirbelte herum und rannte so schnell er konnte zu den Langhäusern „Wir werden angegriffen“, brüllte er und griff nach seinem Speer.

Seine Leute waren schnell bereit, doch die andere Ottajasko brach über sie wie eine Sturmflut. Wohin Thoralf auch blickte wurde gekämpft. Die beiden Beschützer der blonden Frau waren in Einzelkämpfe vertieft. Sein bester Mann und längster Freund, Raluf, stellte sich dem Mann entgegen, der sich mit wölfischem Grinsen auf ihn stürzte. Geschickt wich er jedem Schlag Ralufs aus, stieß ihn zu Boden und grub das Blatt seiner Langaxt mit einem Schwung tief in dessen Brust. Mit einem schmatzenden Geräusch, das Thoralf fast zum Würgen brachte, riss er die Axt aus dem Körper, wobei Blut über seine Krötenhaut spritzte und wandte sich dem nächsten zu. Die dunkelhaarige Frau kämpfte gegen einen Thorwaler, dessen Namen Thoralf nicht einmal wusste. Sie konterte seine Speerangriffe mit dem Skjald, riss ihn mit einem gezielten Schlag ihrer Orknase zu Boden und stach ihn dann mit einem Stiefeldolch ab wie ein Schwein. So sehr er sich auch bemühte die Wunde an seinem Hals zu bedecken, das Blut sprudelte über seine Hände und sickerte dann in den Boden.

Thoralf wandte den Blick ab. Ein weiterer Sturm von Rekkern brach über seine Sippe. Zwei Krieger mit Doppelblattäxten rammten drei seiner Männer weg und mähten sie nieder, bevor sie sich wehren konnten. Zwei kräftige Hiebe trennten einem von Thoralfs Männern den Arm ab, der andere Hieb traf direkt in den ungeschützten Torso. Warme Eingeweide fielen zu Boden als der fremde Rekker seine Axt in Form einer Fluke hoch riss und sich dem weiteren Kampf widmete.
Sie hatten keine Chance, das realisierte Thoralf jetzt. Die Wölfe waren zu stark gerüstet und zu erfahren im Kampf. Sie wüteten in Thoralfs Dorf wie ein zorniger Pottwal. Er überlegte, ob er fliehen sollte, doch Swafnir mochte keine Feiglinge. Wenn dann wollte er kämpfend sterben. Er lief auf einen Krieger zu, gerüstet in einer leichten Platte. Der Mann war offensichtlich kein Thorwaler. Trotz Helm hatte er Thoralf wohl kommen sehen und aus der Drehung heraus schlug er mit seiner Schwertlanze zu. Der Schlag holte Thoralf von den Füßen und in einer fließenden Bewegung versetzte der Krieger ihm einen tiefen Stich ins Bein, der sofort stark blutete. „Du bleibst hier“, griente der Rekker. „Mit dir will sich Rea sicher noch unterhalten.“ Er versetzte Thoralf noch einen schmerzhaften Tritt in die Rippen und wandte sich wieder dem Kampf zu.

Der Widerstand wurde weniger und weniger, bis sich die letzten nur noch in den Langhäusern versteckten oder flohen. Die Angreifer begannen nun Karren heranzuführen, auf die sie die Vorräte und alles Wertvolle was sie finden konnten, luden.

Thoralf kämpfte damit nicht das Bewusstsein zu verlieren. Aus der Wunde an seinem Bein floss das Blut in einem stetigen Strom. Als er aufblickte stand die blonde Frau vor ihm.
„Es war ein gewaltiger Fehler uns zu bestehlen“, begann sie und wischte sich Blut aus dem Gesicht, das offensichtlich nicht ihr eigenes war. Neben ihr stand ein Mann, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und fixierte Thoralf mit kalten, grünen Augen, die Thoralf eine Gänsehaut bescherten.
„Ihr hättet das Korn doch eh nicht gebraucht“, rief der Hetmann aus und diesmal hörte man die Panik in seiner Stimme. „Als ob du das beurteilen könntest“, fauchte eine rothaarige Thorwalerin kalt.
Die Hetfrau zuckte mit den Schultern. „Ihr wart einfach zu gierig und ihr habt euch mit den Falschen angelegt. Jetzt braucht ihr das Korn auf jeden Fall nicht mehr.“ Thoralf wollte etwas antworten, doch der Schmerz in seinem Bein ließ ihn nur aufstöhnen. Die blonde Frau blickte den Mann an, der offensichtlich zu ihrer Thinskari gehörte. Sie wechselten einen Blick, sie nickte und ohne ein weiteres Wort schwang der Mann seine Axt und hieb dem Hetmann mit einem kräftigen Schlag den Kopf ab.
Die Rekker wandten sich um. „Zurück zum Vargberg“, rief die Hetfrau. „Der Winter wird hart und es gibt viel zu tun.“