Unser ist das Meer – Kapitel 1

Schon beim letzten Mal war ihm der Aufstieg anstrengend vorgekommen, doch diesmal war es sogar noch schwieriger. Als Faenwulf das Plateau erreichte, ging sein Atem schnell und kleine Schweißtropfen glänzten auf seiner Stirn, doch er war froh diesen Ort zu besuchen. Einen Ort den er nur mit guten Erinnerungen verband. Warme Abende am Feuer, heldenhafte Geschichten, köstliche Eintöpfe und heißer Met. Sein Ziel war ein Berg in einer Biegung des Merek, im Norden Thorwals. Ein Ort im Nirgendwo, an dem es im Sommer unangenehm warm und feucht und im Winter so kalt war, dass die Tiere im Wald erfroren und der Merek komplett mit einer dicken Eisschicht bedeckt war. Dieser Berg aus Kalkstein, war das Zuhause seines Freundes und Faenwulf nahm diesen Weg nur gerne auf sich. Nichts hatte sich in all den Jahren verändert und jetzt im Frühling war es hier fast idyllisch schön.

Als Faenwulf näher an das Grassodenhaus herantrat, öffnete sich die Tür und ein alter Mann schritt heraus. Auf einen Stock gestützt, blinzelte er mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne. Er ging gebückt, so dass sein langer Bart, der mit Perlen und Talismanen geschmückt war, fast bis zum Boden reichte. Sein Kopf war kahl und seine Glatze mit verschlungenen Runen verziert. An seinem Ohr baumelte ein Ohrring mit dem Fangzahn eines Wolfs.

Zuerst musterte er den jüngeren Mann skeptisch, dann erstrahlte sein Gesicht zu einem breiten Grinsen, das etliche Zahnlücken sehen ließ. „Faenwulf“, rief der Alte aus. „Wie lange ist es her, seit du mich das letzte Mal besucht hast? Fünf Jahre? Zehn?“ Auch Faenwulf grinste jetzt breit und lief auf seinen alten Freund zu. „Eher fünfzehn“, sagte er lachend und schloss den alten Mann in die Arme. Die Umarmung des Alten war überraschend kräftig und kurz wich Faenwulf sämtliche Luft aus seinen Lungen. Er unterschätzte seinen alten Freund immer wieder, sah man ihm doch die Zeit an, die er auf Dere verbracht hatte. Doch wäre Ingibjörg ein schwacher alter Mann, hätte er hier nicht so lange überlebt. Die Winter wurden kalt, die Raubtiere waren zahlreich und nur selten verirrte sich ein Händler hierher. Ingibjörg wusste jedoch wie er für sich sorgen konnte und tat dies bereits seit vielen Jahren.

Faenwulf blickte auf, als eine Frau aus dem Haus trat. Auch sie erkannte er sofort. „Karva“, rief er fröhlich aus. „Du bist immer noch hier.“ Ein Kommentar, den er sich nicht verkneifen konnte. Die Frau blickte ihn würdevoll an. Ihr rotbraunes Haar war mit weißen Strähnen durchzogen und hing in einem dicken, mit Perlen geschmückten, Zopf fast bis in ihre Kniekehlen. „Ich werde immer hier sein“, sagte sie wohlwollend und schloss Faenwulf nun auch in ihre Arme. Sie war die Letzte hier am Berg. Alle anderen waren ausgezogen, um nach Abenteuer, Gold und Liebe zu suchen. Von den vielen Kindern Ingibjörgs des Alten war nur noch Karva geblieben. Sie lebten hier zu zweit mit ein paar Hühnern und Ziegen. Es war ein schöner, jedoch auch ein rauer Ort, mit einem Wald, in dem es vor Wölfen nur so wimmelte und auch Schwarzpelze waren hier, durch die Nähe zur großen Olochtai, keine Seltenheit. Schon häufig hatte Faenwulf den Alten gefragt, wieso er gerade hier seine Hütte erbaut hatte und immer hatte Ingibjörg geantwortet: Weil es mir hier gefällt. Diese Antwort war so gut wie jede Antwort, fand Faenwulf, und hatte irgendwann aufgehört zu fragen.

Ingibjörg schritt zum Brunnen neben dem Haus und hievte den Eimer nach oben. Darin schwamm eine große Tonflasche, die der Alte heraushob. „So bleibt er schön kalt“, sagte er wissend, zog den Korken und nahm einen tiefen Schluck. Genüsslich leckte er sich die Lippen und reichte die Flasche an Faenwulf weiter, der sofort wusste was ihm angeboten wurde. Dieser köstliche Kräuterschnaps war die Spezialität des Alten und wäre durchaus eine Kaperfahrt wert gewesen. Faenwulf nahm zwei große Schlucke, wobei die Perlen in seinem rot-blonden Bart am kalten Ton der Flasche klickten. „Wie sehr habe ich das vermisst“, schmatzte er und nahm direkt noch einen Schluck, bevor er die Flasche an Karva weiter reichte, die den Rest in zwei großen Zügen leerte. Noch lange würden sie die Kräuter und den Honig auf ihren Lippen schmecken.

„Sehr gut, sehr gut“, lachte Ingibjörg und nahm seiner Tochter die leere Flasche ab. „Ich werde wohl bald neue Kräuter sammeln müssen. Vor dem Winter müssen noch einige Schank fertig werden. Doch lasst uns jetzt rein gehen. Ich habe gerade ein fettes Kaninchen über dem Feuer und es soll nicht verbrennen. Erzähl uns von deinen Reisen, Faenwulf.“ Mit diesen Worten verschwand der Alte im Haus, stets auf seinen mit Runen verzierten Stock gestützt. Faenwulf und Karva folgten ihm ins Innere des Hauses. Es war schummerig und Faenwulf konnte die seltsamen Kräuter riechen, die sein alter Freund sammelte. An den Wänden prangten verschiedene Runen, einige auch nicht-thorwalschen Ursprungs und zahllose Talismane hingen von der Decke oder an den Wänden. Kurz schaute Faenwulf herüber zu Ingibjörgs Schlafplatz, doch er wandte den Blick schnell wieder ab. Bücher standen dort und noch mehr Runen waren in das Holz geritzt, einige, die Faenwulf schnell wieder vergessen wollte. Er bekam eine Gänsehaut, fürchtete er sich doch wie der Rest seines Volkes vor allem was irgendwie magisch war. Er konzentrierte sich auf die Mitte des Raumes in dem ein gemütliches Feuer brannte über dem ein Kaninchen schmorte, das Ingibjörg nun gewissenhaft drehte. „Hab keine Angst, Faenwulf“, kicherte der Alte, als hätte er die Gedanken seines jungen Freundes gelesen und wirklich fiel die Anspannung von Faenwulf ab, als er das väterliche Lächeln des Alten sah. Er trat ans Feuer, setzte sich auf ein gemütliches Schaffell und streifte seine hohen Stulpenstiefel ab. Seine Füße schmerzten vom langen Marsch zum Berg. Das Kaninchen duftete köstlich und Faenwulf merkte wie ihm langsam das Wasser im Mund zusammen lief. Karva kam herein mit einem Laib Brot und einem Horn Met. Lächelnd nahm sie neben Faenwulf Platz und reichte ihm das Horn. Und schon war jeglicher Zweifel verschwunden. Er fühlte sich wieder wie Zuhause und alte Erinnerungen an diesen Ort wärmten sein Herz.

Kapitel 2