Unser ist das Meer – Kapitel 2

Das Kaninchen war wie versprochen sehr fett gewesen und jeder hatte eine gute Portion Fleisch, gesüßt mit Rübensirup, bekommen. Dazu hatte es gebratene Rüben gegeben, mit frisch gebackenem Brot. Jetzt saßen sie zusammen am Feuer, schon leicht benebelt von einer weiteren Flasche Ingibjörgs und einem mehrere Male neu aufgefüllten Horn Met. Faenwulf leckte sich das Fett von den Fingern, während Karva schweigend hinter ihm saß und sein langes rot-blondes Haar zu vielen Zöpfen flocht.

„Ich plane auf Heerfahrt zu gehen“, begann Faenwulf und reichte das Horn an Ingibjörg weiter, bei dem der Alkohol noch keine Wirkung zu haben schien. „Mein Drakkar liegt im Olporter Hafen und wird repariert, aber bald wird er fertig sein und die Fahrt kann beginnen. In einigen Nächten ist bereits Faramond. Es wird Zeit.“ Der Alte nickte nachdenklich und blickte seine Tochter an, die wortlos weiter Faenwulfs Haar flocht. „Was suchst du, Faenwulf?“, fragte der Alte und nahm einen tiefen Schluck Met. „Du hast keine Ottajasko. Niemand braucht deine Herferd.“ Faenwulf verzog das Gesicht zu einem bitteren Grinsen. Der Alte konnte verletzend ehrlich sein. Es stimmte. Faenwulf hatte keine Ottajasko und keine Familie. Niemand war von ihm abhängig, was gut, aber auch bedrückend war. Er war nicht mehr der Jüngste und schon bald würden sich weiße Strähnen unter sein rot-blondes Haar mischen. „Sie werden meinen Namen singen“, erwiderte er dann. „Das ist mein Ziel. Ich werde tapfere Rekker suchen und die Skalden werden unser aller Namen singen.“ Die Antwort kam fast trotzig heraus, doch der Alte wollte ihn nur ärgern, ihn zum Nachdenken anregen, wusste er doch, dass Faenwulf dies manchmal zu wenig tat. Er dachte an Swafnir, den großen Krieger, an dessen Seite er stehen wollte, wenn er seinen letzten Atemzug ausgehaucht hatte, doch dafür musste er sich beweisen. So manch schwere Schlacht hatte er geschlagen, doch das genügte Faenwulf nicht. Er wollte mehr kämpfen, mehr plündern, er wollte, dass Swafnir ihn sah.

„Ich werde dich begleiten“, warf Karva ein. „Dies soll meine letzte Herferd sein.“ Dann erhob sie sich und zog sich in ihren Teil des Hauses zurück, wahrscheinlich, um ihre Sachen zusammenzupacken. Das letzte Wort war also gesprochen. Karva hatte ihm die Entscheidung abgenommen, war er doch her gekommen, um sich den Rat und den Segen des Alten abzuholen. Dieser erhob sich nun auch, leerte das Horn und warf es dann achtlos neben das Feuer. Kurz ging er zu seinem Schlafplatz und legte Faenwulf dann ein Amulett um den Hals. Es war ein aus Elfenbein geschnitzter Pottwal, dessen Körper mit feinen Runen übersät war. Der Gottwal. Swafnir, die alte Flosse, Beschützer aller Thorwaler. Eine Gänsehaut breitete sich von der Stelle aus, an der das Amulett Faenwulfs Haut berührte. Er konnte den Wal in seinem Herzen hören. Ingibjörg blickte ins Feuer, griff dann in seine Tasche und warf eine Handvoll Kräuter in die Flammen. Weißer Rauch stieg auf, der in sanften Kringeln zur Decke stieg und sich dort sammelte. Der Alte betrachtete den aufsteigenden Rauch und schien sich dann in der Wolke unter der Decke zu verlieren. Minuten vergingen, ohne dass jemand etwas sagte, bis der Alte seinen Blick schließlich von dem Rauch los riss und seinem Freund ein breites Grinsen schenkte. „Sie werden deinen Namen singen, Faenwulf“, kicherte er. „Allerdings aus anderen Gründen, als du sie vielleicht anstrebst.“ Schmunzelnd zog der Alte sich in sein Schlaflager zurück und ließ seinen jungen Freund wortlos stehen. Tausend Gedanken schossen durch Faenwulfs Kopf. Er kannte die Gabe seines alten Freundes, doch er würde sich nie daran gewöhnen können. Es war unheimlich. Faenwulf griff nach dem Amulett und spuckte ins Feuer. Spucken und das Berühren von Metall war eine wirksame Geste um erwähnte Geister oder magische Dinge von sich fern zu halten.

Er kannte sich im Grassodenhaus aus und schritt zu einem Lager, dass er nutzen konnte. Bis auf die Bruche entkleidet, legte Faenwulf sich auf das Strohlager, das so hoch mit Schaffellen bedeckt war, dass es fast schien, als wäre man auf einer Wolke gebettet. Obwohl die Nächte noch kalt waren und das Feuer fast runter gebrannt, war es wohlig warm auf den Fellen und unter zwei Wolldecken. Der Aufstieg hing ihm immer noch in den Knochen und das Erlebnis mit Ingibjörg hatte ihn erschreckt, doch Faenwulf schlief so schnell ein, dass kaum Zeit hatte über den vergangenen Tag nachzudenken. Würde er diese Nacht etwas träumen, so würde er Ingibjörg davon erzählen. Träume interessierten den Alten immer sehr.

Faenwulf wurde vom Krähen des Hahns geweckt. Sein Schlaf war tief und traumlos gewesen, worüber er jetzt sehr froh war. Nach den Geschehnissen gestern Nacht hätte das auch ganz anders aussehen können. Diese Seite von Ingibjörg hatte Faenwulf nur sehr selten gesehen und sie bereitete ihm Unbehagen. Es war seltsam und unheimlich und hätte er nicht ein so gemütliches Lager gehabt, hätte Faenwulf wohl die Nacht draußen verbracht. Doch er vertraute seinem Freund. Hier würde ihm nichts passieren. Von dem unheimlichen Rauch war schon lange nichts mehr zu sehen und doch schien man ihn noch zu spüren. Eine Gänsehaut breitete sich auf Faenwulfs Körper aus, ausgehend von dem Amulett das Ingibjörg ihm gegeben hatte. Es sollte ihn beschützen, das war klar und es abzulegen, und war es nur um sich zu waschen, war keine Option.

Faenwulf stand auf und streckte sich, wobei seine Gelenke knackten. So jung war er wirklich nicht mehr. Es wurde Zeit, dass er sich mal wieder etwas anstrengte und die eingerosteten Muskeln zum Rudern und Kämpfen nutzte.

Im Lager am Ende des Raumes zog Karva sich gerade an und Faenwulf konnte nicht umhin einen kurzen Blick zu riskieren. Karva hatte zwar einige Winter mehr erlebt als er, doch sie war immer noch eine ernstzunehmende Kriegerin und schöne Frau. Fast zwei Schritt groß überragte sie so manchen Mann, ihren Körper verzierten etliche Hautbilder und jeder Mann hätte nur zu gerne seine Hände ihn ihrem rotbraunen Haar vergraben. Sie trug mehr Hautbilder als man auf den ersten Blick sah, wie Faenwulf jetzt feststellte. Ihren Hals zierte ein springender Wolf, auf ihrer linken Schulter tobte ein wütender Pottwal und ihre linke Brust umschlang die rote Schildrune. So hatte Faenwulf seine alte Freundin noch nie gesehen, doch ihm gefiel sehr was er sah. Karva hatte ihre Ausrüstung zusammen gepackt und war gerade dabei ihre Krötenhaut überzuziehen. Die Lederrüstung war aus speckigem Leder, das so manchen Blutfleck aufwies und an etlichen Stellen geflickt worden war. Doch man sah auch, dass das Leder gefettet und die Nieten poliert worden waren. Genauso wie die verzierte Skraja an ihrem Gürtel. Faenwulf konnte sich ein Pfeifen gerade noch verkneifen, als Karva schließlich in den Raum trat. Ihre hohen Stulpenstiefel reichten ihr bis zu den Schenkeln und ihre rot-weiß gestreifte Hose war neu und noch strahlend weiß. Sie lehnte ihren Schild, der einen zähnefletschenden Wolf zeigte, an die Tür und begann die Glut in der Mitte des Raums neu zu entfachen. „Wenn du weiter so dümmlich starrst, fallen dir noch die Augen aus dem Kopf“, rief sie schmunzelnd Faenwulf zu und legte ein paar kleine Äste auf die Glut. Peinlich berührt ging Faenwulf nach draußen und holte Wasser aus dem Brunnen, um sich zu waschen. Das Wasser war frisch und kühl und fühlte sich wunderbar an. Der Tau glitzerte noch im Gras und schon jetzt konnte man erkennen, dass es ein herrlicher Tag werden würde. Die Sonne ging langsam auf und der Himmel war blau und frei von jeder Wolke. Faenwulf entledigte sich seiner Bruche, steckte prustend den Kopf in den Eimer voll kaltem Wasser und leerte ihn dann über seinem Kopf. Es war kalt, eiskalt, doch auch erfrischend und kurz kam Faenwulf sich wieder wie ein kleiner Junge vor. Er schüttelte sich und begann dann sich zu waschen. Dabei schweifte sein Blick über das Plateau das Ingibjörg sein Zuhause nannte. Ein paar Hühner stolzierten herum und pickten gelegentlich etwas von Boden auf und die Ziegen knabberten in ihrem Pferch genüsslich an ein paar Kräutern und dem Heu, das Karva ihnen heute morgen gebrachte hatte. Sie schienen den neuen Tag zu genießen.

Noch während Faenwulf sich in diesem Morgen verlor, hörte er nicht weit entfernt ein markerschütterndes Heulen. Er zuckte zusammen, seine linke Hand ergriff sein Amulett und seine rechte glitt an seine Hüfte, zu der Stelle, an der sonst seine Axt hing. Sofort blickte er sich um. Der Wolf konnte nicht weit sein, dafür war das Heulen zu nah gewesen, doch anschleichen konnte er sich auf diesem Plateau auch nicht. Regungslos blieb Faenwulf stehen und lauschte, doch er hörte nichts. Kein weiteres Heulen, kein Rascheln im Unterholz, kein Knurren, nichts. Der Wolf war fort. „Der alte Goifang wagt sich mittlerweile immer näher an unser Heim heran“, murmelte Ingibjörg hinter ihm und Faenwulfs Herz setzte für einige Sekunden aus. Wie konnte der alte Mann, obwohl er sich die meiste Zeit auf einen Stock stützen musste, so leise sein? „Wer ist Goifang?“, fragte er schließlich säuerlich und wandte sich zu seinem alten Freund um, doch dieser schüttelte nur den Kopf. „Diese Geschichte erzähle ich dir wenn du wieder hier bist.“ Und so verschwand der Alte wieder im Haus, aus dem es mittlerweile köstlich nach Rundfladen duftete. Warme Rundfladen mit Rübensirup und süßer Milch. Was konnte es zum Frühstück besseres geben?

Kapitel 1 | Kapitel 3