Unser ist das Meer – Kapitel 3

Alle drei waren sehr schweigsam und bereiteten sich innerlich auf den Abschied vor. Vor allem Karva schien diese Reise sehr ernst zu nehmen, war dies doch ihre letzte Gelegenheit sich vor Swafnir zu beweisen. Ingibjörg hatte einen köstlichen Tee aus frischen Kräutern zubereitet, den sie gemeinsam tranken. Der Alte hatte ihnen auch ein Säckchen voll getrockneter Kräuter für die Reise eingepackt, zusammen mit einigen Verbänden und einer Salbe, die Wunden schneller heilen ließ.

Dann war es so weit. Karva erhob sich und Faenwulf tat es ihr gleich. Beide schulterten ihre ledernen Seesäcke, schnürten sich ihre Schilde auf den Rücken und schnallten ihre Äxte an den Gürtel. Karva blickte ihren alten Vater an und schenkte ihm ein warmes Lächeln, das er erwiderte. Beide umarmten sich herzlich. „Wir sehen uns im Heimamond“, murmelte der Alte ins Haar seiner Tochter und ergänzte noch etwas, das Faenwulf nicht verstand, dann umarmte er den jüngeren. „Und jetzt raus mit euch. Ich erwarte Gäste.“ Ohne zu fragen marschierten die beiden los und schauten sich an wie aufgeregte Börn.

Wie er es nach einem Abschied immer tat, warf Faenwulf einen letzten Blick zurück. Ingibjörg stand vor dem Brunnen, nahm einen Schluck Wasser und hielt seinen Blick Richtung Wald gerichtet, aus dem jetzt zwei Gestalten traten. Gehüllt in weite Mäntel, die Gesichter von Kapuzen verdeckt, stützten sich beide auf Wanderstäbe, doch der Größe und Statur nach, waren es ebenfalls Thorwaler. „Frag gar nicht erst wer das ist“, warnte Karva und Faenwulf schluckte die Frage herunter, die er gerade äußern wollte. „Es gibt viele Dinge, die du über meinen Vater nicht wissen willst.“ Faenwulf nickte nur und schritt wortlos weiter. Der Alte war ihm heute morgen ruhelos vorgekommen und fast erleichtert, dass Karva und Faenwulf den Berg verließen. Vielleicht plante er etwas großes, etwas unheimliches und bei beiden Besucher Ingibjörgs schienen Faenwulfs Verdacht nur zu bestätigen.

Der Tag war genauso schön wie der letzte, was den Weg erleichterte. Sie liefen im Schatten der Bäume einen abschüssigen Trampelpfad entlang. Karva gab den Weg vor und Faenwulf folgte ihr. Beide hatten ihre Hand stets in der Nähe ihrer Axt, doch sie waren entspannt und aufgeregt. Es herrschte eine angenehme Stille und so hatten sie Gelegenheit die Schönheit der Gegend zu betrachten. Hier wuchsen viele Kräuter und Blumen, vier Schritt hohe Brombeerhecken und riesige Steineichen, die so alt zu sein schienen wie die Zeit. Überall schwirrten Bienen und Hummeln herum und der Frühling lag in der Luft. Zu so einer Zeit traf man hier selten auf Orks und auch die Wölfe hielten sich zurück, da es genug Rehe und Kaninchen gab, die sie jagen konnten.

Ihr erstes Ziel würde Waskir sein. Das bedeutete zwar einen kleinen Umweg zu ihrem Ziel Olport, doch Faenwulf kannte dort einige tapfere Rekker, die er auf seiner Fahrt nicht missen wollte. Wenn sie in dem selben Tempo weiter gingen wie bisher, konnten sie die Stadt heute Abend noch erreichen. Faenwulf hoffte darauf einige junge Männer und Frauen dazu bewegen zu können, sich ihm anzuschließen. Allerdings zweifelte er nicht daran jemanden zu finden. Junge Thorwaler lechzten nach Abenteuer und Herausforderungen. Es war eher zu befürchten, dass zu viele mit wollten. Wo genau er hin wollte wusste er noch nicht. Vielleicht würden die Winde ihm den Weg weisen. Auf seiner letzten Herferd waren sie vier Tage lang einer Schule von Delfinen gefolgt, die sie schließlich zu drei al’anfanischen Handelsschiffen geführt hatte, deren Laderäume bis zur Decke mit feinster Seide gefüllt waren. Das war ein grandioser Tag gewesen. Die gesamte folgende Woche hatten sie in Tavernen verbracht und immer noch genug Dukaten übrig gehabt, um den Winter zu überstehen. Vielleicht würde Swafnir ihm ja wieder den Weg weisen. Diesmal zu größeren Abenteuern.

Der Alte hatte ihm Ruhm prophezeit, doch wie das meiste was Seher und Gelehrte von sich gaben, war es undurchsichtig und nicht sehr verständlich. Seine Tochter schien jedoch sehr gut zu wissen, was im Kopf des Alten vor sich ging und schien keine Furcht davor zu empfinden. Beim Betrachten der älteren Frau fiel Faenwulf auf, dass sie leicht hinkte, sie schien jedoch nicht erschöpft zu sein. „Stimmt etwas nicht?“, fragte er und schloss zu ihr auf. „Du hinkst.“ Überrascht schaute sie ihn an. „Das tue ich aber bereits seit zehn Wintern“, antwortete sie ruppig. „Das ist auf meiner letzten Herferd passiert.“ Sie hielt kurz inne, um einen Schluck aus ihrem Wasserschlauch zu nehmen und lief dann weiter. „Wir hatten unser Lager am Strand aufgeschlagen, einen Eintopf gekocht und sind sehr spät schlafen gegangen. Unser Steuermann ist während seiner Wache eingeschlafen und wir wurden im Morgengrauen von einem Seetiger angegriffen. Er hat einen Seiler, der mit uns reiste, so schwer verletzt, dass er noch am Strand starb. Als das Miststück auf mich los gegangen ist, habe ich ihm hiermit die Kehle durchgeschnitten.“ Karva zog ein langes Olportmesser aus ihrem Stiefel und hielt es hoch. „Vorher hat mir das Vieh aber fast das halbe Bein abgerissen. Ich musste die Herferd abbrechen und bin zu meinem Vater zurückgekehrt. Es hat lange gedauert, bis ich wieder normal gehen konnte. Fast zehn Winter.“ Sie blickte nachdenklich in die Ferne und Verbitterung zeigte sich auf ihrem Gesicht. Faenwulf verstand jetzt wieso seine Freundin so lange gewartet hatte, bis sie wieder auf Fahrt gegangen war. Ein schwacher oder kranker Thorwaler war auf Fahrt für niemanden nützlich, doch Faenwulf konnten ihren Wunsch verstehen auch nach so vielen Wintern wieder auf Herferd zu gehen. Schon jetzt konnte er die Sehnsucht nach dem Meer spüren, nach dem Salz auf seiner Haut und dem Wind in seinem Haar. Es lag Thorwalern einfach im Blut über die Meere zu fahren, gab es doch keinen besseren Weg, um sich wild und frei zu fühlen.

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