Unser ist das Meer – Kapitel 4

Es wurde langsam dunkel und sie hatten ihr Lager unter den ausladenden Ästen einer Kiefer aufgeschlagen. Karva hatte eine Schlingenfalle aufgestellt und ein etwas mageres Kaninchen hatte darin sein Ende gefunden. Nun brutzelte es über dem Feuer. Faenwulf war wieder einmal erstaunt darüber, was seine alte Freundin alles konnte.

Sie verbrachten den Abend schweigsam und Faenwulf war froh, seine Stiefel ausziehen zu können, um seinen Füßen etwas Luft zu gönnen. Die hohen Stulpenstiefel waren perfekt, um von einem Schiff in die Brandung zu springen ohne nasse Füße zu bekommen, oder gar auf nassen Steinen wegzurutschen, doch nach langen Märschen konnten einem schon einmal die Füße schmerzen. Karva hatte eine große Wolldecke entfaltet und wickelte sich nun darin ein. Das Kaninchenfleisch war noch nicht ganz durch, doch das kümmerte beide nicht. Sie waren hungrig wie junge Wölfe und rissen gierig das Fleisch von den Knochen. Fett lief ihnen die Finger und das Kinn herunter und es schien als hätten sie noch nie etwas so gutes gegessen. Die Knochen vergruben sie einige Meter entfernt. Sollte der Geruch doch keine Raubtiere anlocken.

Faenwulf war nach dem Werfen einer Münze als erster an der Reihe Wache zu halten. Karva rollte sich in ihre Decke ein, die Skraja griffbereit, mit ihrem Seesack als Kissen. Es dauerte nicht lange und ihre Atemzüge wurden länger und regelmäßig. Faenwulf versuchte das Feuer so klein wie möglich zu halten, um keine Bären, Wölfe oder gar Orks anzulocken. Immer wieder schien er Lichter in der Ferne zu sehen. Konnten sie von Waskir stammen? Sie hatten es nicht geschafft die große Stadt an einem Tag zu erreichen, doch morgen würden sie sicher gegen Mittag da sein. Faenwulf freute sich darauf. Es war immer eine willkommene Abwechslung unter vielen Menschen zu sein, auch wenn jeder Thorwaler sich manchmal nach Einsamkeit sehnte. Faenwulf schmunzelte über den zwiegespaltenen Charakter seines Volks. Doch niemals wollte er zu anderen gehören, denn nirgendwo fühlte er sich so wohl wie unter seinesgleichen. Auch wenn er nie eine Ottajasko gehabt hatte, was eine Sache war, die er bedauerte. Nichts knüpfte Verbindungen, die so eng waren, wie in einer Ottajasko zusammen zu leben, zu kämpfen und zu sterben. Eine weitere Weisheit, die er von Ingibjörg gehört hatte und die von vielen bestätigt worden war. Eine Ottajasko war wie eine zweite Familie in der jeder sich auf den anderen verließ und Blutsbande keine Rolle spielten.

Es schien windiger zu werden und einzelne Böen schnitten in Faenwulfs Rücken. Er zog seinen Fellmantel aus seinem Seesack und warf ihn sich über. Die Kiefer bot nicht sehr viel Schutz, doch Faenwulf wagte nicht, dass Feuer weiter zu entfachen. So rückte er näher an die kleine Flamme heran und versuchte wenigstens seine Füße aufzuwärmen. Ein warmes Bett würde ein weiterer Vorzug von Waskir sein. Ebenso wie die Taverne in der es köstliches Ahl und echtes Premer Feuer gab. In Waskir gab es außerdem das beste Sauerdunkelbrot, das man in ganz Thorwal bekommen konnte. Dazu eine Schale Bilkuer Fischblut und der Tag konnte nicht besser werden.

Faenwulfs Magen knurrte bei dem Gedanken an diese Köstlichkeiten und zusammen mit der Kälte schlich sich eine Müdigkeit in seine Glieder. Er erhob sich und lief ein paar Schritte, atmete tief ein und wieder aus. „Dieser verdammte Berg“, fluchte Faenwulf leise und lief weiter. Das half ein bisschen die Müdigkeit und das Frieren zu vertreiben, doch sobald er sich wieder hingesetzt hatte, begann sein Zittern von neuem. Karva regte sich und blickte ihren Reisegefährten mitleidig an. Dann kroch sie zu Faenwulf hinüber und legte ihre Decke um sie beide. Mit einem tiefen, müden Seufzen drückte sie sich an Faenwulf. „Verfluche den Berg nicht“, murmelte sie mit schläfriger Stimme. „Meinem Vater bedeutet er sehr viel.“ Als Faenwulf nicht antwortete sprach sie weiter. „Vater war schon immer rastlos, weiß du? Der Wal in ihm war immer ruhelos und ebenso wie die Kinder des Meeres reiste er von Ort zu Ort und Land zu Land. Aber anders als die Wale hatte er nie eine Heimat. Keinen Ort an den er gebunden war und an den er zurückkehren wollte. Deswegen sind meine Geschwister in ganz Thorwal verteilt. Immer wieder traf er eine Frau oder Freunde, die ihn an sich banden, doch das hielt nie lange an. Entweder die Ferne rief ihn, oder die anderen merkten, dass er anders war. Das war dann häufig der Moment, wo Vater weiter reiste.“ Wieder nickte Faenwulf nur. Er konnte sich sehr gut vorstellen, wie andere Thorwaler auf Ingibjörgs seltsame Gabe reagiert hatten. Es war unheimlich und meist brachte es nichts Gutes mit sich, wenn jemand mit den Runjas sprechen oder Dinge sehen konnte. Solche Leute wurden gemieden und waren seltener Teil einer Gemeinschaft. „Er reiste dann mit einem Freund herum“, fuhr Karva fort. „Leif und er sind heute noch befreundet, musst du wissen. In Waskir waren Menschen verschwunden und Vater wollte herausfinden wieso. Also reisten sie ins Waskirer Hochland immer den Merek entlang und schon bald spürte mein Vater, dass dort etwas hauste. Und er sorgte dafür, dass es sich weiter in den Wald zurück zog und Waskir in Ruhe ließ.“ Faenwulf dämmerte, dass es etwas mit dem Wolf zu tun haben musste, den er heute Morgen gehört hatte. Noch nie hatte etwas sein Herz so schnell zu Eis werden lassen, wie dieses markerschütternde Heulen. „Sein Name ist Goifang“, fing Karva seine Gedanken auf. „Ich weiß nicht wie lange er schon an diesem Berg lebt, doch schon seit unzähligen Wintern erzählen sich die Waskirer Geschichten von diesem Wolf. Es muss etwas zu bedeuten haben, dass er sich ausgerechnet heute wieder gezeigt hat. Vielleicht liegt es an den Besuchern meines Vaters. Doch trotz seiner Gefahren und unwirtlichen Winter hat dieser Berg der Seele meines Vaters Ruhe gebracht. Deswegen lebt er dort. Er ist seine eigene kleine Heimat.“ Karva blickte nachdenklich ins Feuer und seufzte schwer. Sie nahm einen Schluck Wasser und legte sich dann wieder hin ohne weitere Wort zu verlieren. Ihren Rücken schmiegte sie an Faenwulf, der die willkommene Wärme genoss. Karvas Geschichte hatte ihn zum Grübeln angeregt und seine Gedanken rasten ruhelos. Unmöglich würde er jetzt schlafen können.

Das Feuer war komplett runter gebrannt, als Karva erwachte. „Schlaf du jetzt“, sagte sie nur, was Faenwulf schließlich doch nicht schwer fiel. Entgegen seiner Vermutung schlief er ruhig und traumlos. Und doch hatte er ein Bild im Kopf, als sie nach dem Aufstehen weiter wanderten. Ein großer schwarzer Wolf, dessen rechter oberer Reißzahn schwarz war wie sein Fell. Und grüne Augen, die einem direkt in die Seele blickten.

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