Unser ist das Meer – Kapitel 8

„Ich erzähle euch die Geschichte von Algrid Feuerhaar. Geboren und aufgewachsen in Olport war sie früh noch bekannt unter dem Namen Algrid Thinmarsdottir. Sie war jung und wild und kein Ort und kein Schiff konnten sie lange halten. Ihr Haar war rot, lang und genauso wenig zu bändigen. Es glich einer Flamme, die ihr mit Sommersprossen geschmücktes Gesicht umrahmte. Die Männer verzehrten sich nach ihr, doch auch von ihnen konnte keiner Algrid halten. Sie ging keinem Kampf aus dem Weg und für jeden besiegten Gegner besuchte sie einen anderen Hamsbitari, der ihre weiße Haut mit einem neuen Bild verzierte. Doch weshalb jeder Thorwaler nördlich von Nostria ihren Namen kannte, war ihr Geschick den Schneidzahn zu werfen. Niemand kam ihr in dieser Kunst gleich und sie gehörte zu den wenigen, die in der Lage waren diese Waffe um Ecken zu werfen.

Auch Olport konnte sie nicht lange halten und so bestieg sie ein Schiff Richtung Virport. Schon oft hatte sie diese kleine Stadt besucht, da es hier den besten Bärenmet gab und sie es nie länger als zwei Winter aushielt ohne ein Horn von diesem köstlichen Getränk zu genießen. Als sie nun jedoch an ihrem Ziel ankam, wurde sich nicht wie sonst freudig begrüßt. Verwirrt machte sie sich auf den Weg ins Innere der Stadt. Alles schien irgendwie grauer und trauriger zu sein, als sie es gewohnt war. Nur wenige wagten sich aus ihren Häusern und weder Kinder noch Tiere bevölkerten die Straßen. Algrid machte sich auf den Weg zum Haus der Dorfältesten. Die Alte hatte sie immer mit offenen Armen empfangen und stets hatte Algrid ein Platz an ihrem Herd gefunden.

Nach kurzem Klopfen öffnete die Tochter der Alten die Tür und führte Algrid wortlos zu ihrer Mutter. Die Alte saß zusammengesunken am Feuer und starrte in die Flammen. Algrid setzte sich neben die Alte und wartete darauf, dass sie etwas sagte. „Die Götter haben dich geschickt,“ sprach die Alte nach schier endlos langer Zeit und Algrid bekam eine Gänsehaut. Mein Durst auf Met hat mich hierher geschickt, dachte Algrid zweifelnd und hörte der Alten weiter zu. „Ein grüner Schatten überfällt unser Dorf“, fuhr die Alte fort. „Immer und immer wieder. Anfangs riss er nur Ziegen und Rinder, doch jetzt holt er sich Schwache und Kinder. Du musst etwas dagegen tun.“ Algrid schauderte es. Ihr Blick glitt auf ihre Hautbilder, jedes einzelne für einen besiegten Gegner. Ihr linker Arm war so eng mit Hautbildern bedeckt, dass man die Haut nicht mehr sah, doch auf ihrem rechten Arm war durchaus noch Platz. „Ich mache es“, sagte sie zu der Alten. „Wo muss ich hin?“ Die Alte blickte sie mit Tränen in den Augen an. „Danke Kind. Du bist unsere Rettung. Folge dem schmalen Pfad hinter der Schmiede. Und nimm das hier mit.“ Sie legte Algrid eine Kette aus glänzendem Metall um den Hals, die mit allerlei glitzernden Steinen verziert war. „Er liebt alles was glitzert und glänzt“, zischte die Alte verbittert. „Der Schatten wird dich finden.“

Algrid verließ wortlos das Jolskrim und schritt zur Taverne wo sie sich ein großes Horn Bärenmet genehmigte. Das zweite Horn trank sie nur zur Hälfte leer, den Rest schüttete sie in die Flammen des Herds. „Auf dich, alte Flosse“, flüsterte sie. „Beschütze mich heute oder hol mich, um an deiner Seite zu streiten.“ Dann machte sie sich auf den Weg.

Die schmale Pfad war nicht schwer zu finden und er führte direkt in den Wald hinein. Er führte über zwei Lichtungen und verlor sich dann jedoch im Dickicht. Algrid fluchte leise, schritt aber immer weiter in den dichter werdenden Wald hinein. Ihr Herz flatterte wie ein Vogel in ihrer Kehle und ihre rechte Hand umklammerte ihre Orknase. An ihren Hüften baumelten ihre beiden Schneidzähne, die mit Opalen und Rubinen verziert waren. Sie marschierte und marschierte, doch nichts schien unheimlich oder seltsam an diesem Wald. Sie sah eine Füchsin, die eines ihrer Jungen in den schützenden Bau zurück trug und kam an einem aufgestauten See vorbei, in dem eine riesige Biberburg thronte, doch all dies machte ihr keine Angst.

Sie war bereits mehrere Jurgaliedlängen unterwegs, als sie sich entschloss umzukehren. Sie wollte die Nacht nicht im Wald verbringen und darum hatte die Alte sie auch nicht gebeten. Nachts kamen andere Dinge als Schatten aus ihren Löchern und die wollte Algrid wenn möglich vermeiden. Sie kehrte also um. Vorbei an der Biberburg und vorbei an dem Fuchsbau. Der Rückweg kam ihr viel länger vor und als sie schließlich ein zweites und drittes Mal an der Biberburg vorbei kam, wusste sie, dass sie sich verirrt hatte. „Dreimal verdammter Wald“, fluchte sie. „Ich wollte mich doch nur mit köstlichem Bärenmet betrinken und dann wieder aufbrechen. Und jetzt sitze ich in diesem dreimal verfluchten Wald fest.“ Wütend trat sie einen Stein weg und marschierte weiter.

Sie kam nicht wieder an dem gestauten See vorbei, den Pfad zurück nach Virport fand sie jedoch auch nicht. Selbst durch die dichten Baumkronen konnte sie sehen, dass die Sonne langsam unter ging und irgendwie fanden die tiefen Sonnenstrahlen ihren Weg durch den Wald, um sie zu blenden. Mit zusammengekniffenen Augen und leise fluchend lief Algrid weiter durch den Wald, wobei die Kette um ihren Hals und die Schneidzähne an ihren Hüften bunte Reflexionen an die Bäume warfen. Sie war völlig in Gedanken versunken, als sie über sich ein Rauschen hörte. Als würde der Wind durch die Blätter wehen, doch es war absolut windstill. Kein Blatt bewegte sich. Algrids Blick schnellte nach oben und ihre grünen Augen musterten die Baumkronen über ihr. Nichts war zu sehen. Sie ging weiter, diesmal jedoch aufmerksam und vorsichtig. Jeden Moment einen Angriff erwartend, doch nichts passierte. Der Wald schien wie ausgestorben, selbst die Vögel waren verstummt.

Schließlich machte sie unter einer großen Steineiche halt. Das Gefühl beobachtet zu werden war furchterregend und ein Funke aus Angst begann in ihrem Herzen zu lodern. Langsam schritt sie um den Baum herum, als sie über sich ein Fauchen hörte, gefolgt von demselben Rauschen, das sie schon vorher bemerkt hatte und das ihr durch den Wald gefolgt war. Wieder schnellte ihr Blick nach oben und wieder sah sie nichts. Sie umklammerte die Orknase weiter, jetzt mit schweißnassen Händen. Die Baumkrone schien vor ihren Augen zu verschwimmen und dann sah sie es. Den grünen Schatten. Er hob sich kaum von dem Grün der Baumkronen ab und sein brauner schuppiger Bauch verschmolz mit dem Braun der Baumrinde. Algrids Hand glitt zu der glitzernden Kette an ihrem Hals und wieder ertönte dieses Zischen. Nur dass es kein Zischen war, sondern ein Fauchen und fast schien es Algrid, als könnte sie die Gier in diesem Fauchen hören. Dann sah sie seinen Kopf. Grüne Augen, dasselbe Grün wie das ihrer eigenen, jedoch mit geschlitzten Pupillen. Augen, die sie anstarrten und keine Sekunde aus dem Blick ließen und darunter ein geöffnetes Maul mit dutzenden weißer Zähne so spitz wie Nadeln. Als Algrid einen weiteren Schritt zurück trat, ohne das Biest aus den Augen zu lassen, fauchte es erneut und breitete Schwingen aus, die eine Spannweite von mindestens drei Schritt erreichten. Vier messerscharfe Greifklauen gruben sich tief in die Rinde des Baumes und Rauch stieg aus den aufgeblähten Nüstern des Ungetüms auf. Der Baumdrache war bereit sie zu töten und zu zerreißen und danach alles was glänzte und glitzerte in seinen Hort zu bringen, den er in der Krone der riesigen Steineiche bewohnte. Algrid war kurz davor von ihrer Angst übermannt zu werden. Noch nie hatte sie einem solchen Ungetüm gegenüber gestanden und schon gar nicht allein. Doch niemand war hier und Swafnir mochte keine Feiglinge. Der Gedanke an ihren Vater, den Gottwal, brachte neuen Mut in ihr Herz. Sie umklammerte den Griff der Orknase mit beiden Händen. „Komm schon her“, schrie sie den Drachen an. „Komm und hol mich, du hässliches Biest.“ Als hätte das Ungetüm sie verstanden, erhob der Drache sich in die Luft, kreiste einmal über sie hinweg und landete dann vor ihr. Der aus seinen Nüstern aufsteigende Rauch war dichter geworden und der lange schuppige Schwanz des Ungetüms peitschte wütend hin und her. Algrid erhob drohend die Orknase und die Klauen des Drachen gruben sich tief in den weichen Waldboden, als er sich bereit machte vorzupreschen und sie anzugreifen. Algrid wich seinem ersten Angriff aus und sein nach ihr schnappendes Maul verfehlte nur knapp ihren Ellbogen. Algrid holte aus und vergrub die Schneide der Orknase tief in der Schulter des Drachen. Es kostete sie einige Anstrengung das Axtblatt wieder zu befreien und die Wunde war nicht so tief wie sie es gehofft hatte. Nur wenig seines grünen Blutes sickerte aus der Wunde. Die Haut eines Drachen war dick und leiser Zweifel keimte in ihr auf. Trotzdem hatte sie den Drachen verletzt und war er vorher noch vorsichtig auf sie zugegangen, verfiel er jetzt in unbändige Wut. Zischend holte der Drache Luft und blickte Algrid voller Hass an. Sein Maul öffnete sich, um die spitzen Zähne zu zeigen und Algrid reagierte im letzten Moment. Mit einem Hechtsprung rettete sie sich hinter einen Baum, als sie schon die Hitze hinter sich spürte. Ein kraftvoller Flammenstrahl schoss aus dem Maul des Drachen und verwandelte alles auf seinem Weg in Asche. Algrid Herz schlug ihr bis zum Hals. Vorsichtig blickte sie hinter dem Baum hervor, als der Drache ihr Versteck schon fast erreicht hatte. Das Biest ist schnell, dachte sie grimmig und sprintete um den Baum herum. Bevor der Drache reagieren konnte, schlug sie erneut mit der Axt zu. Diesmal vergrub sie die Schneide in der Seite des Drachen und mehr grünes Blut floss auf den Waldboden. Doch noch während Algrid versuchte das Axtblatt aus den Schuppen des Drachen zu befreien, holte dieser erneut Luft und badete sie in einem Flammenmeer. Die junge Thorwalerin konnte sich erneut mit einem beherzten Sprung retten, doch ihre Orknase war verloren. Das Axtblatt steckte noch immer in der Flanke des Drachen, während der Stiel den Flammen zum Opfer gefallen war. Auch ihre Hand hatte es schlimm erwischt. Sie war so schlimm verbrannt, dass sie die Finger kaum bewegen konnte und die Haut auf ihrem Unterarm begann bereits riesige schwarze Blasen zu werfen. Algrid fluchte leise vor sich hin, grübelte jedoch gleichzeitig darüber wie sie das Ungetüm töten konnte. Vor jedem Feuerspeien holte das Biest tief Luft, jedoch nicht durch die Nüstern oder das Maul. Es besaß eine Öffnung direkt an der Kehle, durch die Algrid das Feuer gesehen hatte, das im Inneren des Monsters loderte und durch diese Öffnung holte er Luft um Feuer und Tod zu speien. Algrid wusste, dass sie nur eine Chance hatte. Wieder schickte sie ein Gebet zu Swafnir, griff nach dem Schneidzahn an ihrem Gürtel und machte sich bereit. Sie sprang hinter dem Baum hervor, direkt vor den Drachen, der sie voller Hass anstarrte. Zornig gruben sich seine Klauen in den Boden und er schnappte nach ihr. Seine sichelartigen Zähne streiften ihre Schulter und hinterließen tiefe Schnitte, die sich sofort mit Blut füllten, doch nichts war so schlimm wie das Drachenfeuer. Nachdem sie den Attacken des Drachen einige Male flink ausgewichen war, blickte er sie erneut zornig an, bereit ihr den Todestoß zu versetzen. Er holte tief Luft und diese kleine Öffnung, kaum größer als die Handfläche einen Kindes, erschien erneut an seiner Kehle. Algrid steckte all ihre Kraft, all ihre Angst und all ihren Zorn in den Wurf. Sie hatte ihr Ziel noch nie verfehlt und auch diesmal traf sie genau. Sie warf und der Schneidzahn taumelte in der Luft auf den Drachen zu. Es schien als würde er das Biest verfehlen, doch im letzten Moment schrieb die Wurfaxt eine Kurve und das lange schlanke Axtblatt grub sich tief in die offene Feuergrube des Drachen. Voll Schmerz schrie das Ungetüm auf und das Feuer erlosch in seinem Inneren. Vor Zorn aufschreiend, sprang Algrid nach vorn und vergrub die Wurfaxt mit einem Tritt, in den sie all ihre letzte Kraft legte, noch tiefer in der Kehle des Drachen. Dieser heulte erneut auf, ging dann zu Boden und blieb zuckend liegen. Grünes Blut, auf dem kleine Flammen tanzten, schoss aus der Wunde in seinem Hals und bald blieb er regungslos liegen. Algrid sank auf die Knie und schickte erneut ein Gebet an Swafnir. Sie hatte es wirklich geschafft. Langsam ließ sie sich auf den Boden sinken und schloss glücklich ihre Augen. Sie würde sich noch kurz ausruhen und sich dann auf den Weg zurück nach Virport machen. Doch dann versank sie in Dunkelheit.

Algrid erwachte im Haus der Alten. Jeder Teil ihres Körpers schmerzte und besonders ihre Hand und ihre Schulter schienen in Flammen zu stehen. Neben ihr kniete die Alte und blickte sie voller Verehrung und Liebe an. „Du hast es geschafft, Kind“, flüsterte sie und tupfte Algrids Stirn mit einem feuchten Tuch ab. „Du hast den grünen Schatten besiegt. Wir haben seinen Hort gefunden. Er hat alles gesammelt was glänzt. Deswegen hat er dich angegriffen. Möchtest du etwas von seinem Schatz behalten?“ Algrid blickte herüber zu dem Haufen glänzenden Metalls. Es war hauptsächlich Plunder, nichts von Wert. Schwach schüttelte die junge Thorwalerin den Kopf. „Ein Horn von eurem guten Bärenmet wäre wunderbar“, antwortete sie mit krächzender Stimme. „Und meinen Schneidzahn hätte ich gerne wieder.“ Die Alte schenkte ihr ein zahnloses Lächeln. „Das alles bekommst du, Algrid Feuerhaar. Die Skalden singen schon jetzt von dir, Kriegerin. Und das werden sie auch noch in vielen hundert Wintern tun.“

Karva lehnte sich zurück und nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Alle blickten sie ehrfürchtig an. „Das war eine hervorragende Geschichte“, grölte Blotgrimm. „Die kannte ich noch nicht.“ Alle nickten mit strahlenden Augen und die Stimmung hatte sich sichtlich verbessert. Alle die vor der Geschichte ihr Lager aufgesucht hatten, um zu schlafen, würden sich morgen selbst verfluchen, wenn die anderen über diese Geschichte sprachen. Faenwulf kannte sie bereits, hatte er sie doch, ebenfalls wie Karva, von Ingibjörg dem Alten gehört, der seiner Aussage nach, Algrid Feuerhaar einst in Olport kennengelernt hatte.

Mittlerweile war es stockdunkel und es war das Beste, wenn sich langsam alle zu ihren Schlafstätten begaben. Ein grimmiger Kerl namens Steinar erklärte sich bereit die erste Wache zu übernehmen. Faenwulf nickte ihm dankbar zu. Steinar sollte ihn bald wecken, da Faenwulf die Hundswache übernehmen würde. Hjasgar und Blotgrimm würden dann die frühe Wache übernehmen.

Es war mittlerweile so kalt geworden, dass sie ihren Atem sehen konnte und Faenwulf war froh, dass er sich in Waskir eine weitere Wolldecke gekauft hatte. Er wickelte sich in alle Decken und Felle ein, die er dabei hatte und obwohl er fror, kam der Schlaf schnell. Träume von Schatten plagten ihn und tiefer Schlaf wollte, obwohl er schnell eingeschlafen war, einfach nicht kommen. Immer wieder wachte Faenwulf auf und blickte herüber zu Steinar, der mit grimmigen Blick in die Dunkelheit starrte. Er sieht müde aus, dachte Faenwulf, bevor er ein weiteres Mal in den Schlaf zurück sank.

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