Unser ist das Meer – Kapitel 21

Ingibjörg und seine beiden Schüler hatten sich den gestrigen Tag über auf ihre Abreise vorbereitet. Sie hatten Proviant für einen längeren Fußmarsch dabei, der Richtung Waskir vor ihnen lag. Der Alte hatte sich nach dem Besuch an der Höhle die meiste Zeit alleine in seinem Grasodenhaus aufgehalten, ihnen doch so gut es ging zu erklären versucht, wie der Plan war. Sie würden nun nach Waskir reisen, um ein Ritual vorzubereiten. Ingibjörg stand so tief mit den Runjas in Verbindung, dass er Dinge wusste, die eigentlich unmöglich zu wissen waren. Er bereitete etwas vor, bereitete den Berg auf etwas vor, das in nicht allzu ferner Zukunft lag.

So hatte er Beorn und Ragin früh geweckt. Bei dem Tempo des Alten würden sie es nicht innerhalb eines Tages in die große Stadt schaffen, also mussten sie auch Waffen mitnehmen, um sich zur Not zu verteidigen.

Eine fröhliche Melodie summend, brachen sie auf Richtung Waskir. Den jungen Männern brannten so viele Fragen unter den Fingernägeln, doch der Alte wiederholte immer wieder, dass sich alles aufklären würde und ihre Fragen beantwortet würden. Immer wieder schnitt er ein paar Kräuter, die auf ihrem Weg lagen und verstaute sie in seiner Tasche. Sie würden bald damit anfangen müssen sich auf den Winter vorzubereiten. Am Berg schneite es lange und viel und kaum ein Händler verirrte sich zu Ingibjörgs Heimat. So wollte er mit einigen Händlern sprechen, die Trockenfleisch und -fisch, Dinkel und anderen Proviant zum Berg liefern sollten. In der Zwischenzeit würden sie andere Dinge erledigen.

Das letzte Ritual hatte die jungen Männer beeindruckt, aber auch verängstigt. Bei ihrem alten Lehrmeister hatten sie sich ausschließlich darauf konzentriert ihre Fähigkeiten zu schulen und zu lernen die Runjas zu verstehen. Ingibjörg führte dies fort, doch er bereitete sie ebenso auf einen Kampf gegen einen mächtigen Geist vor, der seinen Platz am Berg nicht einfach aufgeben wollte.

„Goifang ist vor vielen Jahrzehnten bis nach Waskir gewandert“, begann Ingibjörg zu erzählen und nahm einen Schluck aus dem Wasserschlauch. „Hat dort Menschen und Tiere getötet. Selbst die Schwarzpelze haben Angst vor ihm. Er ist auch der Grund warum sie uns bisher in Ruhe gelassen haben. Der Geist ängstigt sie zu sehr.“ Die beiden Schüler hörten ihm gebannt zu. „Mit Hilfe der Waskirer konnten wir ihn allerdings zurücktreiben und schließlich bannen. Bis in die Höhle, die ihr vor einigen Tagen gesehen habt. Doch der Geist ist stark und Rituale halten nicht ewig, daher müssen wir das tun, was wir jetzt planen. Die Menschen in Waskir werden uns helfen.“

Danach äußerte sich der Alte nicht mehr zu dem Ritual oder dem Geist und die beiden jungen Männer wagten auch nicht zu fragen. So erzählten sie wiederum Geschichten über ihren alten Lehrmeister, der ein guter Freund Ingibjörgs gewesen war, aber wesentlich strenger und ein richtiger Sauertopf. Ingibjörg lachte laut, als Ragin erzählte, dass er von ihrem alten Lehrmeister regelmäßig aus dem Schlaf gerissen worden war, um Runen zu werfen und zu deuten. „Ein guter Godi ist in jeder Situation in der Lage zu deuten und zu sehen“, imitierte Ragin den alten Mann. Ingibjörg schüttelte nur den Kopf. Er selbst hielt nicht viel von Strenge, war er doch die meiste Zeit seines Lebens von Ort zu Ort gereist und hatte in den Tag hinein gelebt. Für Strenge und Ernsthaftigkeit war da nie viel Platz gewesen.

Auf ihrem Weg kamen sie an einem alten Orklager vorbei und einigen Grabhügeln, die mit orkischen Runen verziert waren. Die Gräber waren noch nicht sehr alt und sie entschieden sich noch etwas weiter zu gehen, um eventuell herum streunenden Orks aus dem Weg zu gehen.

„Wir werden einen Freund von mir in Waskir abholen“, begann Ingibjörg, als sie abends am Feuer saßen. Ihr Lager hatten sie unter einem Felsvorsprung aufgeschlagen und ruhten ihre müden Füße aus. Ingibjörg rollte eine Wolldecke zusammen und setzte sich darauf. „Er ist Steinmetz und wird uns helfen, die Runen an der Höhle zu erneuern. Sie sind sehr wichtig und zusammen haben wir es bereits einmal geschafft. Doch es braucht Zeit. Die müssen wir ihm verschaffen.“

Die Nacht war kurz und sehr kühl. Der Alte hatte die meiste Zeit Wache gehalten, vermutlich wegen seinen schmerzenden Knochen und dem ungemütlichen Boden, doch kurz nach Sonnenaufgang weckte er seine Schüler und sie marschierten weiter. Es war nun nicht mehr weit nach Waskir und als sie in der Stadt eintrafen, gingen die Bewohner schon ihrem gewohnten Alltag nach. Als erstes zog es Ingibjörg zu einem Kräuterhändler, der Kräuter und Räucherzeug aus aller Welt verkaufte. Mit geschultem Blick sammelte Ingibjörg ein was er brauchte und überreichte dem Händler dann etwas Hacksilber. Er schien den Alten schon als treuen Kunden zu kennen, so wie viele in der Stadt. Einige wichen ihm aus, andere blickten ihn anerkennend an. Der Alte schien dies nicht zu bemerken und lief weiter gut gelaunt von Händler zu Händler. Er bestellte Mehl für den Winter, ebenso Hangifisk und Hangikjöt und alles was über lange Zeit nicht verderben würde. Natürlich vergaß er nicht mehrere Fässer Ahl und Mjöt zu bestellen und versprach genügend Flaschen seines Kräuterschnapses zu brauen.

Am Rand der Stadt trafen sie auf seinen Freund Leif, der ihn mit freudigem Lächeln begrüßte. Der Grund des Besuchs war klar und Leif zögerte nicht, sich sofort daran zu machen seine Sachen zu packen. Er würde den Winter am Berg verbringen. „Es ist also soweit“, bemerkte er mürrisch, während er einen Karren mit Kisten belud. Ingibjörg nickte nur. „Hat lange gedauert, aber irgendwann musste er ja wieder kommen. Der verdammte Bastard lässt sich einfach nicht vertreiben.“ Ingibjörg nickte wieder und deutete auf Beorn und Ragin. „Diesmal habe ich uns Verstärkung geholt.“ Er lächelte leicht. „Aber es ist klar, dass es wieder ablaufen muss wie letztes Mal. Pack du deine Sachen. Ich gehe zum Tempel.“

Beorn und Ragin folgten ihm in den Tempel Swafnirs, in dem einige ruhig beteten, andere einfach nur zu warten schienen. In einer Ecke war ein kleiner Schrein zu sehen, der Ögnir geweiht war. Ingibjörg ging darauf zu und flüsterte etwas. Er schien zu lauschen, zuzuhören und zu verstehen. Ein bitteres Lächeln erschien auf seinen Lippen und er legte einen Anhänger auf den Schrein Ögnirs, der mit unbekannten Runen verziert war. Dann wandte er sich Swafnir zu und seine Miene erhellte sich. Wir bei jedem Thorwaler erfüllten die Gedanken an den Gottwal sein Herz mit Freude und Zuversicht. Selbst hier im Norden, weit weg vom Meer, konnten die Thorwaler die Anwesenheit ihres Gottes spüren.

Auch in Richtung Swafnir flüsterte Ingibjörg ein paar Worte und sein Gesicht hellte sich auf. Kurz konnten Beorn und Ragin erahnen wie Ingibjörg als junger Mann ausgesehen hatte. Vor langer langer Zeit. Ingibjörg schloss kurz die Augen, schien zu lauschen und wandte sich dann ab, um zu gehen. Als sie den Ausgang erreicht hatten, trat ein Mann zu ihnen. Er sah blass aus, fast verängstigt und wusste anscheinend nicht was er sagen sollte. Ingibjörg blickte ihn an und legte eine Hand um das Kinn des Mannes, drehte seinen Kopf nach links, dann nach rechts und betrachtete ihn genau.

„Heute Abend“, flüsterte der Alte dann. „Swafnir wird dich sehen.“ Dem verängstigten Mann wich jegliche Farbe aus dem Gesicht, doch er nickte und verließ den Tempel. Beorn und Ragin hatten ein ungutes Gefühl im Bauch. Sie waren sich nicht sicher, von was sie gerade Zeuge gewesen waren, doch sie würden es noch erfahren. Soviel stand fest.

Zurück bei seinem Freund Leif mussten die Schüler helfen seine Sachen zusammen zu packen. Leif hatte einiges an Werkzeug und persönlichen Dingen auf einen Karren gepackt, den seine Langmähne namens Olvir ziehen würde.Während Ingibjörg und Leif Pläne schmiedeten durften die Schüler ein wenig die Stadt erkunden. Ohne Ingibjörgs bescheidene Kochkünste beleidigen zu wollen, steuerten sie zuerst zur Taverne und gönnten sich einen Krug frisches Ahl und ein gutes Stück Fleisch. Dazu trank jeder einen ordentlichen Schluck Waskirer. Es war angenehm für die beiden angehenden Goden auch mal den Kopf frei zu bekommen. Hier in Waskir wusste niemand um ihre Gaben und jeder behandelte sie wie zwei junge Männer an denen nichts besonderes war. Sie plauderten mit anderen Reisenden und eine der Schankmaiden machte Beorn schöne Augen.

Da sie nicht genug Münzen für ein weiteres Ahl hatten, schlenderten sie zum Zuckerbäcker, um zu sehen, was sie sich mit ihrem zusammengekratzten Geld noch leisten konnten. Der Bäcker, ein fröhlicher Mann, mit strohblondem Haar, drückte ein Auge zu und schenke ihnen zwei Schnecken aus süßem Teig.

Zuvor hatten die beiden jungen Männer wenig gutes über Waskir gehört, doch ihnen gefiel es. So schlenderten sie weiter durch die Straßen, als etwas ihre Aufmerksamkeit erregte. Zwischen zwei Häusern stand eine weinende Frau, neben ihr der Mann mit dem Ingibjörg im Tempel Swafnirs gesprochen hatte. Sie hatte ihn am Ärmel seiner Tunika gegriffen und weinte bitterlich, doch seine Miene blieb ausdruckslos. Sanft legte er seine Hand auf ihre Wange und sagte etwas zu ihr, woraufhin die Frau nickte, jedoch weiterhin weinte. Beorn und Ragin entfernten sich, einen bitteren Geschmack im Mund. Etwas war seltsam und das Gefühl, dass ihnen etwas bevor stand, das ihnen gar nicht gefallen würde, wuchs.

So gingen sie ohne Umschweife zurück zum Haus von Leif, wo er und Ingibjörg schon auf sie warteten. Ingibjörg sah, dass seine Schüler bedrückt waren, doch er fragte nicht nach. Wenn sie Sorgen hatten, bei denen er ihnen helfen konnte, so sollten sie mit ihm reden.

Sie warteten noch etwa eine Jurgaliedlänge bis der Mann aus dem Tempel auftauchte. Sie tauschten keine Höflichkeiten aus und niemand stellte sich vor. Allen war klar, dass das in dieser Situation überflüssig war. Ingibjörg ging vor, gefolgt von Leif mit seinem Karren und dem Fremden. Beorn und Ragin folgten wortlos. Die weinende Frau war nirgends zu sehen.

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