Unser ist das Meer – Kapitel 22

Sie nahmen einen anderen Weg als den Hinweg, bogen auf einen schmaleren Pfad ab, der offensichtlich nicht oft benutzt wurde. Nach langem Marsch wurde der anfangs felsige Boden immer weicher. Auch die Pflanzen um sie herum veränderten sich. Die hohen Bäume wurden weniger und wichen dichten Büschen und hohen Gräsern. Sie trafen auf ein paar Torfstecher und Beorn und Ragin wussten nun, dass sie sich auf ein Moor zu bewegen mussten. Beorn bildetet sich ein, das modrige Wasser schon riechen zu können. Ein kalter Schauer rann seinen Rücken herab. Er hatte schon von dem Moor bei Waskir gehört. Seufzermoos nannten die Anwohner es, hielten sich aber fern so gut es ging. Lediglich die Torfstecher gingen hier ein und aus und kannten jeden Knüppeldamm wie die Rückseite ihrer Hand. Tat man hier einen falschen Schritt, konnte es das Ende bedeuten. Ein Ende das man nicht seinem schlimmsten Feind wünschte.

Ragin spürte ein Kribbeln direkt hinter seinen Augen. Dieser Ort war nicht einfach ein Moor und die Runjas, die hier flüsterten, waren hinterhältig und tückisch wie das Moor selbst. Es bedurfte höchster Konzentration die feixenden Stimmen aus seinem Kopf auszuschließen.

„Wir sind da“, bemerkte Ingibjörg nach schier endlos scheinendem Marsch. Sie hatten eine Art Lichtung erreicht. Der Boden war hier trocken und sicher, doch umgeben von brackigem Wasser, Moor und unzähligen Schwärmen von Mücken. Die Sonne ging langsam unter und Ingibjörg begann mit seinen Vorbereitungen. Beorn und Ragin sollten ein Feuer machen und schon mal damit beginnen einige Kräuter zu verbrennen. Ingibjörg selbst machte sich daran mit dem Ende seines Gehstocks Runen in den weichen Boden zu zeichnen. Leif hatte sich auf einen Baumstumpf gesetzt und betrachtetet das Geschehen teilnahmslos. Der fremde Reisende verfolgte alles mit steigendem Entsetzen. Er war leichenblass und seine Hände zitterten so stark, dass er sie schließlich ineinander verkrampfte, um sie daran zu hindern.

Der Rauch des Räucherkrauts sammelte sich über ihnen in den Baumkronen. Ingibjörg ließ sich am Feuer nieder und blickte konzentriert in die Flammen. Seine Schüler setzten sich ebenfalls ans Feuer und versuchten kein Detail zu verpassen. Die Flammen tanzten, der Rauch schlängelte sich in den Himmel und langsam wurden die Stimmen der Runjas lauter und lauter. Sie kicherten, feixten, lachten und kreischten. Jedes Mal wenn der Lärm unerträglich zu werden schien, warf Ingibjörg eine weitere Hand Kräuter ins Feuer oder ließ den Rauch mit einer Handbewegung in eine andere Richtung tanzen, und die Runjas wurden leiser. Nach einiger Zeit schien es als würden sie Bewegungen im Moor sehen. Schnelle Bewegungen gerade außerhalb des Blicks, Bewegungen, die man nur im Augenwinkel sah und sobald man hinschaute, war dort nichts außer Dunkelheit.

Es war unklar wie spät es war, doch die Sonne war komplett am Horizont verschwunden und nur das Feuer erhellte die Lichtung. Seit einiger Zeit waren Lichter im Moor erschienen. Lichter, die einen sicheren Weg durch das Moor und eine sichere Zuflucht versprachen. Doch die Runjas waren tückisch und jeder, der sie kannte, wusste, dass dieser Weg in den Tod führte.

Mittlerweile war das Kichern und Feixen der Runjas so laut, dass selbst Leif und der Fremde es zu hören schienen. Die Zeit war gekommen. Mit steifen Gliedern erhob Ingibjörg sich und deutete dem Fremden zu ihm zu treten. Er war genauso wackelig auf den Beinen wie der Alte und umklammerte mit einer Hand einen Anhänger in der Form eines Pottwals. Ingibjörg blickte ihn an, berührte sanft die Stirn des Mannes und zog dann eine Tonflasche hervor. Er entkorkte sie und begann den Inhalt über Kopf und Glieder des Mannes zu verteilen. Es roch nach Algen und Salz und Ragin realisierte, dass es Meerwasser war. Kleine Tropfen hingen in den Wimpern des Mannes, der immer ruhiger wurde. Nun zog Ingibjörg ein Messer hervor, das er sich ohne die Miene zu verziehen, durch die Handfläche zog. Im Schein des Feuers schienen die Tropfen fast schwarz sein. Wieder ergriff Ingibjörg das Gesicht des Mannes und benetzte dessen Wangen mit seinem Blut. Er legte ihm eine Kette um, ließ dann einige Tropfen seines Blutes ins Feuer fallen und flüsterte etwas das niemand am Feuer verstehen konnte. Doch die Runjas schienen es zu verstehen. Sie wurden wieder lauter und lauter, so dass Beorn und Ragin sich zwingen mussten, ihre Ohren nicht mit den Händen zu bedecken. Ingibjörg blickte den Mann an und sagte ein Wort, dass die jungen Männer trotz des Lärms verstanden. „Geh!“ Und er tat es. Den Lichtern ins Moor folgend, drehte der Fremde sich um und verließ die Lichtung. Die jungen Männer versuchten ihn so lange wie möglich im Blick zu behalten, doch irgendwann war er einfach fort und die Runjas verstummten abrupt.

Ragin fühlte eine Übelkeit in sich aufsteigen und auch Beorn war leichenblass. „Versucht zu schlafen“, sagte Ingibjörg mit erschöpfter Stimme. „Ruht euch aus. Morgen geht es zurück zum Berg. Das hier war erst der Anfang.“

Kapitel 21 | Kapitel 23