Unser ist das Meer – Kapitel 27

Die Vorbereitung hatte erneut Wochen gedauert und die jungen Goden beobachteten mit leichter Sorge, dass die Blätter der Bäume und Sträucher sich bereits braun färbten. Der Herbst nahte und somit war der Winter mit seiner unbarmherzigen Kälte nicht weit. Ingibjörg hatte sie heute früh geweckt und ihnen befohlen sich zu rüsten. Während Leif seine Werkzeuge auf den Karren lud und Olvir davor zurrte, rüsteten die Lehrlinge sich mit Polsterwams und Krötenhaut. Ragin schnallte sich seinen Skjald auf den Rücken und die Orknase an den Gürtel. Beorn nahm wie immer seinen Speer mit. Ingibjörg hatte einen großen Rucksack bepackt, mit Kräutern, Verpflegung und vielen anderen Dingen, die er in dem Grassodenhaus lagerte. Die Sonne begann gerade erst aufzugehen, doch sie machten sich bereits auf den Weg. Beorn und Ragin kannten diesen Weg und beide versuchten sich ihre beginnende Angst nicht anmerken zu lassen. Sie gingen wieder zur Höhle und die beiden jungen Männer wussten, dass nun passieren würde, worauf sie das ganze Jahr über hingearbeitet hatten. Sie sahen Werkzeuge in Leifs Karren, Farben und seine Waffen. Würden sie ihre Waffen überhaupt nutzen können, gegen das, was dort oben auf sie wartete? Ihre Nervosität stieg.

Ingibjörg redete den Weg über nicht und alles was sie hörten waren die Geräusche des Waldes und ihr eigener schwerer Atem. Selbst die Runjas schwiegen, als warteten sie gespannt auf das, was passieren würde. Je näher sie der Höhle kamen, desto dunkler wurde es und das obwohl die Sonne schien. Die Luft schien schwer und sie spürten das Unheil, das Böse das hier hauste. Wie ein Kribbeln im Nacken, wenn man erwartete jeden Moment angegriffen zu werden. Die Geräusche des Waldes wurden immer weniger, bis sie schließlich verstummten und die beiden Lehrlinge konnten spüren, dass das Wesen das hier hauste erneut an Kraft gewonnen hatte. Es begann die Umgebung des Berges zu verseuchen, wie Gift einen See.

Immer häufiger säumten tote Tiere ihren Weg, manche regelrecht zerfetzt, andere halb gefressen. Wir müssen etwas tun, dachte Ragin und warf einen Blick zurück über dieses Hochland, das er mittlerweile seine Heimat nannte. Dies alles war eine Prüfung und sie schritten ihrem Ende entgegen.

Olvir wurde immer unruhiger und sträubte sich weiter zu gehen. Nur das gute Zureden von Leif überzeugte das Pony den Weg weiter zu beschreiten. Als der Wald lichter wurde und der Boden felsiger, wussten sie, dass sie fast am Ziel waren. Sie erreichten das Plateau und starrten erneut in den schwarzen Rachen der Höhle, aus der die böse Macht des Geistes, der hier hauste, zu dringen schien. Sie halfen Leif den Karren zu entladen und nachdem er Olvir das Geschirr abgenommen hatte, scheuchte er das Pony davon. Sein treuer Begleiter würde den Weg nach Hause finden. Blieb er hier, würde er die Nacht vielleicht nicht überleben.

Ingibjörg begann ein Feuer zu entfachen und schickte seine Lehrlinge los, um Feuerholz sammeln. Dieses Feuer musste groß sein, zwei Schritt hoch und lange brennen. Totes Holz zu finden war nicht schwer, begannen die Bäume hier doch unter dem Einfluss des bösen Geistes zu sterben. So warfen sie immer mehr Holz ins Feuer bis es eine, für Ingibjörg, zufriedenstellende Größe erreicht hatte. Dieser holte aus seinem Rucksack eine Molle und begann in ihr verschieden Kräuter zu vermengen. Er gab geriebene Kreide und Wasser dazu und begann eine zähe Masse daraus zu mischen.

Leif begann ebenfalls mit seiner Arbeit. Er hatte sein Werkzeug bereit gelegt und säuberte die in den Höhleneingang gemeißelten Runen. Die obersten Runen erreichte er mithilfe eines hölzernen Gerüsts. Er nutzte Meerwasser zum Reinigen der Runen und ging dabei mit höchster Sorgfalt vor. Beorn und Ragin konnten nichts tun, als tatenlos zuzusehen und wachsam zu sein. Ingibjörg flüsterte vor sich hin und war wie in Trance, während er weiter am Feuer saß. Auch die Lehrlinge konnten die Runjas hören, doch anders als sonst, hörten sie noch eine weitere Stimme, leise, doch mächtig und dröhnend. Weit entfernt und in Worten sprechend, die sie nicht verstanden. Und doch jagte ihnen diese Stimme solch eine Angst ein, dass es sie größte Anstrengung kostete nicht sofort zu fliehen. Dass der Alte und Leif sich dem Ursprung dieser Stimme bereits einmal gestellt hatten, schien unglaublich.

Sie schreckten aus ihren Gedanken hoch, als Leif begann, die ausgewaschenen Runen erneut zu vertiefen. Mit Hammer und Schrifteisen begann er mit der Arbeit. Ingibjörg deutete ihnen nun zu ihm zu treten. „Es beginnt“, murmelte er und zog ein Messer aus seinem Gürtel. Sanft griff er Beorns Arm und setzte einen Hautschnitt. Dies tat er ebenso an Ragins Arm. Das Messer war so scharf, dass sie den Schnitt kaum spürten. Wortlos fing Ingibjörg das Blut in der Molle auf und vermischte des mit der Masse aus Kräutern, Kreide und Meerwasser. Es folgte ein Schnitt in seinen eigenen Arm. Ingibjörg schien viel mehr seines eigenen Blutes zu brauchen, doch die Lehrlinge äußerten ihre Sorge nicht. Der alte Mann wusste was er tat. So warteten sie weiter ab. Leifs Arbeit ging nur langsam vorwärts und bald standen ihm kleine Schweißperlen auf der Stirn. Doch er arbeitete unermüdlich, ohne etwas zu trinken oder zu essen.

„Kommt zu mir“, befahl Ingibjörg seinen Lehrlingen. Das Feuer brannte lichterloh und strahlte eine große Hitze aus. „Dies wird eure größte Prüfung“, begann der Alte und reichte den beiden seinen Wasserschlauch. „Ihr werdet kämpfen müssen. Mit der Axt und mit eurem Geist. Doch denkt stets an Swafnir, der an eurer Seite kämpft gegen Hranngars Gezücht und allem was sich in seinen und unseren Weg stellt. Ihr dürft nicht zurück weichen.“ Die Lehrlinge nickten wortlos. Sie schwitzten, doch sie wussten nicht ob es aufgrund des Feuers war, oder wegen der steigenden Angst, die sich in ihrem Inneren wand.

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