Unser ist das Meer – Kapitel 28

Ingibjörg stand auf und Schritt zum Eingang der Höhle. Leif war beim Bogen des Eingangs angekommen und sah unendlich verletzlich aus. Der Alte schritt zu den tiefen, neuen Runen und begann diese mit der Masse aus Blut auszumalen. „Es geht los“, rief er an seine Schüler gewandt und widmete sich dann wieder den Runen. Zuerst geschah nichts, doch dann spürten die jungen Thorwaler ein Dröhnen aus der Höhle. Der Boden unter ihren Füßen schien zu erbeben. Ragin griff nach seiner Axt, Beorn hielt seinen Speer bereit. Und tatsächlich hörten sie, dass sich aus mehreren Richtungen etwas näherte. Sie hörten das Knurren, bevor sie sie sahen. Wölfe. Sie wussten nicht wieviele es waren, doch die Augen der Tiere waren wirr und böse. Er nutzt sie für seine Zwecke, dachte Ragin, als das erste Tier ihn ansprang. Der junge Thorwaler riss seinen Skjald hoch und wehrte den Angriff der Bestie ab. Beorn stieß dem Tier seinen Speer in die Seite, bevor es erneut angreifen konnte, doch die anderen Wölfe fielen nun ebenfalls über sie her. Ragin wehrte den nächsten Angriff ab, doch Beorn fiel dies, nur mit Speer bewaffnet wesentlich schwerer. Dazu mussten sie Leif und Ingibjörg beschützen, war es doch das Ziel von Goifang die beiden an ihrem Vorhaben zu hindern, die Runen am Eingang der Höhle zu erneuern.

Ragin hieb seine Axt in den Kopf eines Wolfs der sich in den Rand des Schilds verbissen hatte, während Beorn den Speer immer wieder vorschnellen ließ um Angriff nach Angriff abzuwehren. Es waren so viele. Noch während Beorn einen Wolf von sich stieß, riss ihn ein anderer von den Füßen und verbiss sich in seinem Oberarm. Vor Schmerz schreiend, versetzte er dem Raubtier einen kraftvollen Tritt, bevor Ragin den Wolf mit der Axt tötete. „Zur Tiefe“, fluchte Beorn und hielt sich den blutenden Arm. „Diese verdammten Biester.“ Hinter Ragins Skjald Schutz suchend, wehrten sie Angriff nach Angriff ab. Der Boden war bereits getränkt von Blut, als die ersten Wölfe begannen sich zurückzuziehen. Kurz vor völliger Erschöpfung stehend, blickten die jungen Thorwaler zu der Höhle. Leif hatte seine Arbeit beendet, griff nun ebenfalls nach einer Orknase und eilte ihnen zur Hilfe. Ingibjörg malte unbeirrt weiter, tunkte seinen Finger immer wieder in die blutige Farbe und zog gewissenhaft die Runen nach. Leifs Hände waren blutig und übersät von Blasen, die durch seine pausenlose Arbeit entstanden waren. Sie alle wurden hier an ihre Grenzen gebracht, doch die Angriffe der Wölfe wurden schwächer und waren immer leichter abzuwehren. Die Tiere begannen schließlich zu fliehen, doch sie wussten, dass es noch nicht überstanden war. Ragin versorgte die tiefe Bissverletzung an Beorns Arm und Leif begann seine wunden Hände zu verbinden. Ingibjörg stand auf seinen Stock gestützt vor dem klaffenden, schwarzen Maul der Höhle, die jegliches Licht zu verschlingen schien. Er sah sehr schwach und zerbrechlich aus vor der großen Öffnung, die tief in den Berg reichte. Er murmelte etwas vor sich her, Bannsprüche, deren Macht Ragin und Beorn spüren konnten. Sie schritten zu ihrem Lehrmeister um ihn zu unterstützen und wenn es nur durch ihre Anwesenheit war. Sie hatten den ersten Schritt getan. Der erste Angriff war abgewehrt und während Ingibjörg noch leise vor sich hin sprach, begann Leif hinter ihnen in einem Mörser erneut Kreide zu zerkleinern. Beorn und Ragin blickten ihren Meister unbeirrt an, auf jedes kleine Zeichen achtend, wie sie ihm helfen konnten. Intuitiv begannen sie ebenfalls leise Gebete zu Swafnir zu sprechen. Der mächtige Gottwal, der sie selbst hier, so fern des Meeres, hören konnte und ihnen Kraft und Mut schenkte, während er seinen eigenen, ewig währenden Kampf gegen die verderbte Hranngar austrug. Sie beteten auch zur gütigen Ifirn, zum listigen Phex und zum hinterhältigen Ögnir, über den sie viel von Ingibjörg gelernt hatten. Sollten die Götter ihnen Kraft, Mut und List schenken. Und ebenso die gleiche Unbarmherzigkeit, die ihr Gegner ihnen entgegen brachte.

Beide schreckten hoch, als sie die Hände Ingibjörgs auf ihren Schultern spürten. Der Alte hatte seine Gebete, seine Bannworte beendet und blickte nun mit harten Augen in die Dunkelheit der Höhle. Leif war zu ihnen getreten und legte wiederum seine zitternde Hand auf Ingibjörgs Schulter. Die beiden jungen Männer konnten die Angst spüren, die von Leif ausging und fühlten ihre eigene Angst tief in sich wachsen. Sie wurde größer und größer und schienen ihnen die Kehlen zuzuschnüren. Und plötzlich sahen sie eine Bewegung in der Höhle. Ein Schatten, der sich in der Dunkelheit regte und immer näher kam. Langsam ins Licht trat. Goifang zu sehen, war noch viel schrecklicher als von ihm zu hören oder von ihm zu träumen. Jetzt, im Licht der herbstlichen Sonne, sahen sie, dass es kein Wolf war. Die Illusion, in die der böse Geist sich gehüllt hatte, war nun zu durchschauen. Er sah aus wie ein Wolf, doch auch wie ein Ungeheuer. Zwei Schritt hoch mit toten, weißen Augen und langen Zähnen, dünn wie Nadeln, die, bedeckt mit Geifer, aus seinem Maul ragten. Ein Schatten umgab ihn wie Nebel, wie ein Schwarm Fliegen eine Leiche. Er schien in ihre Seelen zu blicken und hinterließ dort nichts als Schrecken und Kälte.

Mein! Dieser Berg ist mein. Eure Seelen sind mein. Ihr seid armselig, Gewürm. Euer Tod wird vergessen sein, eure Leiber zerrissen, eure Seelen zerfetzt.

Euer Bemühen war vergeblich und wird vergeblich sein. Ich kann niemals sterben, euer Tod ist unvermeidbar.

„Genug“, schrie Ingibjörg das Monstrum an. „Genug!“ Der Wolf wich nicht zurück. Sein Zähnefletschen glich einem grausamen Grinsen, als er einen weiteren Schritt aus der Höhle heraus trat. Seine langen Klauen hinterließen tiefe Spuren im Sand. „Du wirst gehen“, sagte Ingibjörg und seine Stimme war kalt wie Eis. Er tat ebenfalls einen Schritt nach vorne. „Und ich werde dich bannen, so wie jedes Mal bisher. Nicht nur du bist mächtiger geworden.“ Aus der Kehle des Wolfs drang ein tiefes Knurren, dass ihnen durch Mark und Bein ging. Leif Schritt zum Feuer, ein Runenband in den Händen haltend. Als er es ins Feuer warf, schrie das Monstrum auf. Ein markerschütternder Schrei voller Hass und Schmerz. „GOIFANG!”, schrie Ingibjörg den Geist an und diesmal wich dieser einen Schritt zurück. „Dein Name macht dich schwach. Dein Name, den ich dir gab, gibt mir die Macht über dich. Gibt mir die Macht dich zu bannen.“ Er zog ein Stück Stoff aus seiner Tunika. Dunkelgrün und mit feinen weißen Runen bestickt, in der Mitte ein Wolf im Sprung, die Zähne gefletscht. Ingibjörg hielt dieses Banner dem Monstrum entgegen. Erneut schrie der Wolf auf, doch stieß er dann vorwärts und schnappte nach dem Alten. Obwohl er diesen nicht berührte, war es diesmal Ingibjörg der zurück wich. Dunkles Blut färbte seine Tunika rot und er stöhnte vor Schmerz. Wieder hielt er das Banner nach oben und vor sich wie einen Schild. „Mein“, brüllte der Alte seinen Feind an. „Dieser Berg ist mein, also verschwinde. Verschwinde in die Dunkelheit aus der du gekrochen bist. Wir haben die Macht über dich, durch deinen Namen und dein Antlitz. Verschwinde!“ Er tat einen weiteren Schritt nach vorne und diesmal folgten ihm Beorn und Ragin. Die Runjas kreischten in ihren Köpfen und wurden nur von dem Brüllen des Monstrums übertönt. Beorn flüsterte etwas, riss sich sein Amulett mit dem Antlitz Swafnirs vom Hals und streckte es dem Geist entgegen. Ragin tat es ihm gleich und hielt seinen Schild hoch, der einen kämpfenden Pottwal zeigte. „VERSCHWINDE!“, brüllten sie erneut und der Wolf bäumte sich auf, vor Schmerz schreiend. Schwarzes Blut sickerte in den Staub, dampfend und giftig. Abrupt verstummten die Runjas in ihren Köpfen. Das Monstrum blickte sie durch seine toten Augen an, schwer getroffen. Es war ein Abwägen. Ein Messen ihrer Kräfte. Ragins Arme zitterten und es schien als würde sein Skjald zu schwer um ihn zu tragen. Beorns Hand zitterte ebenfalls und Blut tropfte aus seiner Faust, da er das Amulett so stark umklammerte. Sie sahen wie das Blut des Alten unter seiner Tunika hervor in den Boden sickerte. Er sah aus, würde er nicht mehr lange stehen können. Die beiden Todfeinde starrten sich an, unter ihren Verletzungen taumelnd. Goifang schnappte erneut nach dem Alten, verletzte ihn diesmal jedoch nicht. Und dann wandte das Monstrum sich ab und rannte in die Dunkelheit der Höhle.

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